Sonntag, 12. Mai 2024

Die Wochenschau (06.05.-12.05.2024): J. Cole, Einstürzende Neubauten, Kettcar, the Libertines

 
 
 
 
 
 
KETTCAR
Gute Laune ungerecht verteilt
Grand Hotel van Cleef

Eine Band mit Haltung waren Kettcar ja schon immer und gottseidank auch eine, die diese auf starke Weise zu kommunizieren wusste. Gute Laune ungerecht verteilt ist nun in seinen besten Momenten ein Album, das sich mit dem Thema Haltung an sich auseinandersetzt und dabei wirklich wertvolles zutage fördert. Der Opener Auch für mich 6. Stunde tut dies am eindrucksvollsten und liefert ein existenzelles Mission Statement für die Platte, abgesehen davon brilliert vor allem Kanye in Bayreuth als Song, der das leidige Thema "Kunst vom Künstler trennen" in meinen Augen gehaltvoller behandelt als manche mehrseitigen Thinkpieces. Auch abseits dieser beiden großen Highlights ist Gute Laune aber das beste Kettcar-Album seit einer ganzen Weile, wobei es mitunter auch sehr persönliche Momente gibt, in denen Marcus Wiebusch Lebensgeschichten erzählt und mehr als einmal auf die Vergangenheit von sich und seiner Band zurück schaut. Ein bisschen schade finde ich mal wieder das in seinen Texten übliche Problem, zwar auf sehr konkrete Dinge hinaus zu wollen, dabei aber stets abstrakt und verklausuliert zu schreiben, sodass man manchmal wenig vom eigentlichen Sinn versteht. Als wesentliches Plus zu den unmittelbaren Vorgängern der Platte empfinde ich indes, dass die musikalische Ausarbeitung der Band erstmals seit langem nicht nur Backdrop für Wiebuschs Lyrics ist, sondern für sich positiv auffällt. Nach dem etwas eingeschlafenen und ziellosen Ich vs. Wir von 2017 definitiv wieder ein Argument dafür, dass diese Band einen besonderen Status in der deutschen Pop-Landschaft einnimmt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





BRYSON TILLER
Bryson Tiller
RCA

Ich war ja echt selbst ein bisschen überrascht, als 2020 Bryson Tillers letzte Platte Anniversary weit in der oberen Hälfte meiner Jahres-Top-30 landete und ich feststellte, wie sehr ich die Musik dieses Typen eigentlich mochte. Vier Jahre sind seitdem nun vergangen und mit seinem selbstbetitelten neuen Album schafft der Sänger aus Kentucky es, dem einen (fast) ebenbürtigen Nachfolger anzuschließen. Und das, obwohl er diesmal stilistisch in eine etwas andere Richtung geht. Die 18 Tracks hier suchen stilistisch die Mitte zwischen Drake und the Weeknd, finden dazwischen aber auch Anklänge des Sounds, der fast an die goldene R'n'B-Ära der Neunziger erinnert. Lyrisch pendelt die Platte dabei zwischen sehr kuscheligem Schmusepop und vor allem lyrisch ziemlich versauten Schlafzimmer-R'n'B (Persuation!), ist darin aber nie geschmacklos oder kitschig. Und sie wäre vermutlich wieder so genial wie die letzte, würde Tiller nicht mit den grauslig boybandigen letzten zwei Songs nochmal richtig ins Klo greifen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11





EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN
Rampen (apm: alien pop music)
Potomak

Neu ist es nicht, dass Songs der Neubauten aus live improvisierten - im Bandjargon "Rampen" genannten Jams entstehen, die neue Platte packt diese interne Lingo aber erstmals in den Titel und macht den spontanen Charakter dieser Songs auch transparenter. Vier Jahre nach dem sehr strukturierten und konzeptuellen Alles in Allem ist die selbstgenannten Alien Pop Music der Berliner ein langes Album voller Stückskizzen, die intern und untereinander wenig zusammenhält. Und wo man kompositorisch irgendwie merkt, dass diese Band sowas nicht zum ersten Mal macht und sich an vielen Stellen ganz klar der Charakter der Neubauten abzeichnet, fehlen doch immer wieder die Aha-Momente, die eine gescheite Nachbearbeitung im Optimalfall schafft. Viel hat das damit zu tun, dass Rampen einfach eine sehr weitläufige Platte mit 15 Songs in 75 Minuten ist, von denen die wenigsten wirklich hängen bleiben, schuld ist aber auch zum Teil ein kreativ enthemmter Blixa Bargeld, der textlich noch mehr abstrahiert als ohnehin schon. Nicht selten wirken seine zusammenhanglosen Gedichte unmotiviert kunstig und sogar pretenziös, wenn er willkürlich Vokabeln mit diffusem Schönklang einpflegt, die aber völlig ohne Kontext stattfinden. Wobei das erstaunliche ist, dass sich daraus nicht mal Momente ergeben, die auf schräge Weise erinnerungswürdig sind, sondern die meistens einfach nur öde sind. Einzelne Lichtblicke wie Ick wees nich (noch nicht), Es könnte sein und vor allem das melancholische Trilobiten gibt es am Ende schon, auch die sind aber maximal so prägnant wie die mittelgruten Songs auf Alles in Allem. Womit Rampen durchweg ein Album bleibt, dem man seine Skizzenhaftigkeit anmerkt und das daran auch nicht gewinnt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠 06/11





J. COLE
Might Delete Later
Interscope

Stand Mai wissen wir, dass man sich an Might Delete Later mittelfristig am ehesten wegen seines Bonustracks 7 Minute Drill erinnern wird, mit dem J. Cole seinen Teil zum mittlerweile komplett eskalierten "Jahrhundert-Beef" zwischen Drake und Kendrick Lamar beitrug, aus dem er selbst sich zum Glück zurückzog, bevor es eklig wurde. Und ein bisschen schade finde ich das ganze, denn mit Might Delete Later veröffentlicht der Rapper drei Jahre nach seinem echt gelungenen letzten Album the Off-Season und zwei nach dem nicht weniger starken zweiten Dreamville-Mixtape ein weiteres äußerst vorzeigbares Stück Musik, das inzwischen eine verlängerte Serie von Platten erweitert, auf denen sein bestes Material seit Ewigkeiten zu hören ist. Auch Might Delete Later verzichtet dabei wieder auf fette Leadsingles und gefällt sich vielmehr als lyrisch-handwerkliche Hiphop-Grundlagenarbeit, die für Cole schon lange zur Komfortzone geworden ist. Erneut sind dabei auch Gäste dabei, die aber wie schon auf den letzten Platten eher ausgewählte Kollaborateure sind als bloße Features und allesamt super funktionieren. Zwar hat die sehr pragmtische Ausrichtung auch zur Folge, dass es eben wenig besondere Momente gibt, was aber auch irgendwie halb so wild ist. Denn die spart Cole sich dann wahrscheinlich für das "richtige" neue Album auf, das anscheinend bereits in den Startlöchern ist. 

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





RITCHIE
Triple Digits [112]
Die-Ai-Wei

 
 
 
 
 
 
 
 
Es ist fraglich, ob dieses Solo-Debüt von RiTchie nach dem Tod von Steppa J. Groggs und dem damit verbundenen Ende von Injury Reserve nun eigentlich ein Nebenschauplatz zum letztes Jahr angekündigten Band-Nachfolgeprojekt By Storm ist oder so etwas wie dessen letztlicher Phänotyp, da Produzent Corey Parker hier weiterhin auftaucht und an der Entstehung der Platte somit alle verbliebenen Mitglieder des Hiphop-Trios beteiligt sind. So oder so zeigt Triple Digits [112] aber eine Möglichkeit, wie eine Welt nach Injury Reserve aussehen kann, die musikalisch viele Ideen, die es dort früher schonmal gab, neu zusammensetzt. Gerade im direkten Vergleich mit dem finalen Band-Album By the Time I Get to Phoenix ist das hier aber auch wieder ein ganzes Stück weniger ausgefallen und bleibt im Bereich einer zwar durchaus experimentellen, aber niemals komplett entgrenzten Hiphop-Platte. Und wo das schon insgesamt dafür sorgt, dass RiTchie sich mit seinem Erstling nicht blamiert und solide abliefert, ist das Ergebnis bei weitem auch nicht die spannendste Musik, die jemand wie er gerade machen könnte. 

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11





IRON MONKEY
Spleen & Goad
Relapse

 
 
 
 
 
 
 
 
 
Nach ihrer Wiedervereinigung 2017 ist Spleen & Goad das zweite neue Album der unwahrscheinlichen Sludge-Pioniere Iron Monkey, mit denen Justin Greaves (kennt man vielleicht von Electric Wizard und Crippled Black Phoenix) in den Neunzigern das Werk von Crowbar und Eyehategod auf der anderen Seite des Atlantik voranbrachte. Ziemlich genau dreißig Jahre später klingt das bei dieser Band immer noch ziemlich rough und brachial, wobei vor allem die grantige aber trotzdem auf Anschlag gedrehte Produktion fantastisches hervorbringt. Ein richtiges Wahnsinnsalbum wäre Spleen & Goad, wenn nicht einige Songs sehr meine Geduld strapazieren würden, beziehungsweise kompositorisch Wege gehen würden, die längere Spielzeiten entsprechend rechtfertigen. Eine tolle Platte, die mich gerade ein bisschen aus der kalten erwischt hat, machen die Briten hier aber trotzdem allemal.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





THE LIBERTINES
All Quiet On the Eastern Esplanade
EMI

Nur um das klarzustellen: Alles, was an den Libertines irgendwann man jung und wild gewesen sein könnte, hat sich spätestens mit diesem Album verabschiedet. Und das ist auch gut so. Denn nicht nur wäre eine Miene der Rebellion über 20 Jahre nach dem Durchbruch der Band irgendwie wenig authentisch, die Musiker selbst strahlen diese auch gar nicht mehr aus. Besonders Pete Doherty hat inzwischen seit Jahren den Nimbus (und den BMI) eines gesetzten Lebemannes und spätestes mit der Etablierung eines mondänen Banddomizils im englischen Küstenort Margate, der nebenbei als bohèmieskes Hotel fungiert und in dem das neue Album auch aufgenommen wurde, ist es vorbei mit dem Punk. Auf All Quiet On the Eastern Esplanade geschieht die Abkehr davon aber sehr bewusst und führt die Libertines nun in eine - wie ich finde verdiente - Position als eine dieser klassisch britischen Rock-Acts wie die Rolling Stones, Blur oder Oasis, die mit ihrer Musik im besten Sinne ein Klischee abbilden. Dass sich die neue Platte aber nicht auf diesen Lorbeeren ausruht, merkt man vor allem daran, dass es hier einige der gesellschaftsrelevantesten Songs der Band seit langem gibt und die Libertines sich Mühe geben, ihre neue Rolle auch inhaltlich auszufüllen. Nicht so sehr im Sinne von handfester Kritik, sondern eher mit der Weisheit lang gedienter Veteranen, die aus ihren Erfahrungen sprechen. Die besten Songs sind am Ende trotzdem die, in denen Doherty über die Jugend (Be Young), Rock'n'Roll (Songs They Naver Play On the Radio) oder sich selbst (Run Run Run) singt und die ein bisschen romatisch verquickt sind. Womit All Quiet für mich fast zehn Jahre nach dem eigentlichen Comeback die deutlich bessere Wiederholung davon ist und alles in allem sehr viel planvoller wirkt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen