Dienstag, 21. Mai 2024

Review: Raw Like Albini

SCOUT NIBLETT
the Calcination of Scout Niblett
Drag City
2010













[ roh | frugal | krachig ]

Vor einigen Wochen verstarb mit Steve Albini einer der vielleicht wichtigsten Produzenten der Rock-Historie im Alter von 61 Jahren. Und wo es beim Tod von fast jedem*r großen Künstler*in eine sehr ähnliche Reaktion von Fans gibt, bei der online die Lieblingsmusik der jeweiligen Person geteilt wird und man über seine eigenen Favoriten spricht und schreibt, fand ich diese Art von Ehrerbietung für ihn in den vergangenen Wochen ganz besonders interessant. Denn dadurch, dass Albini eben nicht nur als Musiker, sondern vornehmlich als Hintermann für andere bekannt wurde, teilten die meisten Fans eben nicht primär die Platten seiner eigenen Bands wie Big Black, Shellac oder anderen Projekten (deren Namen man 2024 lieber nicht mehr laut sagt) sondern stattdessen Alben, die er als Toningenieur betreute. Seit den frühen Achtzigern waren das je nach zählweise fast 600 Stück, darunter ewige Indie-Klassiker wie Nirvanas In Utero, Goat von the Jesus Lizard, Rid of Me von PJ Harvey, Surfer Rosa von den Pixies, Mclusky Do Dallas von Mclusky oder Ys von Joanna Newsom, mit denen sich Albini einen Leumund als Untergrund-Legende erarbeitete. Er selbst verstand sich dabei nie als Produzent im engeren Sinne, sondern lediglich als Toningeniur, der von sich aus nicht künstlerisch beteiligt ist, sondern lediglich sein Handwerk zur Verfügung stellt, um die musikalische Vision seiner Kund*innen umzusetzen. Dass die allermeisten seiner Platten trotzdem einen typischen Sound hatten und er diese auf seine Weise beeinflusste, kann man aber trotzdem sagen. Albini war jemand, der den rohen Klang von Instrumenten ungeschönt in den Vordergrund stellte und klanglich auf jede Menge Lautstärke, aber auch auf eine gewisse Kaputtheit setzte. Was ihn von Produzenten wie Rick Rubin oder Kurt Ballou unterschied, die ebenfalls für sehr voluminöse, aber dabei deutlich rundere und fettere Bearbeitung an den Tag legen. Weshalb auch ich im Zuge seines Ablebens nach einer Platte gesucht habe, die sein Können auf besondere Weise darstellt und das ich hier nochmal ausfürlich besprechen möchte. Und obwohl ich an dieser Stelle betonen muss, dass the Calcination of Scout Niblett nicht unbedingt mein Lieblingsalbum mit Steve Albini an den Reglern ist (das wäre wahrscheinlich Yanqui U.X.O. von Godspeed You! Black Emperor, eines meiner absoluten All Time Faves), ist es in meinen Augen doch eines, das sein Handwerk auf eine sehr nachvollziehbare Weise faszinierend zeigt. Denn mit einer Künstlerin wie der Britin Emma "Scout" Niblett, die schon von sich aus einen sehr skelettalen und krachigen Sound mitbringt, funktioniert sein sehr direkter Ansatz wahrscheinlich am besten.
Auf den Etwas über 50 Minuten von the Calcination of Scout Niblett hört man abgesehen von Nibletts Gesang maximal zwei Instrumente: Zum einen eine stark verzerrte elektrische Gitarre in fast jedem Song, in vielleicht der Hälfte davon außerdem ein Schlagzeug. Letzteres aber auch nicht immer und wenn überhaupt, dann in einer extrem minimalistischen Meg White-haftigkeit, die nur ganz wenige Akzente setzt und das nötigtse rahmt. Umso mehr steht also in vielen Momenten Nibletts Gitarrenspiel im Vordergrund, besser gesagt die vielen klanglichen Noise-Verrenkungen, die die Künstlerin damit macht. Für jemanden wie Albini, der stets ein großes Interesse für die unverfälschten Sounds hatte, die Instrumente, Verstärker und vielleicht das ein oder andere Effektgerät von sich aus erzeugen können, sicherlich ein Büffet an Möglichkeiten. Calcination ist ein extrem rohes und frugal arrangiertes Album, das in seiner nicht eben kurzen Spielduer und mit Songlängen von teilweise mehr als sechs Minuten (der Closer Meet and Greet bringt sogar neun auf die Uhr) niemals langweilig wird. Weil Albini die Eigenschaften von Nibletts Stimme und die Nuancen ihres Instruments richtig in den Mittelpunkt zu stellen weiß: Direkt und ohne Filter. Aus dem selben Grund ist die Demoversion von PJ Harveys Dry besser als das eigentliche Album (was witzig ist, denn Albini produzierte die fertige Platte zum Teil mit) und so viele Live-Mitschnitte von akustisch gespielten Songs tausendmal gehaltvoller als ihre Äquivalente im Studio. Calcination klingt in Performance und Aufnahme, als würde Scout Niblett diese Songs in maximal fünf Metern Entfernung von den Hörenden bei einer Art seltsamer Open Mic-Nummer spielen und nicht in einem Studio, bei dem man alles separat mikrofonieren und mischen kann. Aufnahmetechnisch ist das absolut kein Hexenwerk, man muss es sich aber erstmal trauen und kompromisslos sein. Gerade bei so einer Platte, die klanglich wenig Ausweichfläche gibt. Es ist gut vorstellbar, dass ein*e andere*r Produzent*in im Falle eines solchen Frugalismus in der Komposition eingegriffen hätte und Vorschläge gemacht hätte, wie man zumindest einige dieser verhältnismäßig langen, tendenziell monotonen Songs aufpeppt: Hier ein paar Backing Vocals, da ein zweiter Overdub auf der Gitarre, definitiv eine Basspur für alle Songs und gescheite Schlagzeugtracks. Aber nicht ein Albini, der die Leute eben machen lässt und eher darauf schaut, dass alles gescheit mikrofoniert ist und die Spuren halbwegs ausgesteuert. Und letztlich ist es diese Herangehensweise, die beim Oeuvre einer Scout Niblett den Unterschied zwischen solidem Songwriterinnen-Rock zu einer echten Erfahrung macht. Eine Erfahrung, die vielleicht nicht alle mögen werden, aber die ohne Frage etwas mit den Hörenden macht. Und in meinem Fall in einem Album resultiert, das ich immens schätze.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢 10/11


Persönliche Höhepunkte
Just Do It | I.B.D. | Kings | Duke of Anxiety | Ripe With Life | Strip Me Pluto | Meet and Greet

Nicht mein Fall
-


Hat was von
PJ Harvey
Dry

the Breeders
Pod


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