Sonntag, 27. Juni 2021

You've Got the Power

H.E.R. - Back of My MindH.E.R.
Back of My Mind
MBK Entertainment | RCA
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ stromlinienförmig | ausgiebig | souverän ] 

Es ist ja im Jahr 2021 nicht mehr unbedingt ganz so ungewöhnlich, dass ein*e Künstler*in schon dann ziemlich erfolgreich sein kann, wenn sie noch kein offizielles kommerzielles Debüt herausgebracht hat. Bereits Ende der Zwotausender machte uns ein junger Drake vor, wie sowas funktionieren kann, seitdem haben es ihm zahlreiche andere - vor allem im Bereich Hiphop - nachgemacht. Dass Gabi Wilson alias H.E.R. unter diesen eine besondere Rolle einnimmt, würde ich trotzdem behaupten. Ganz einfach deshalb, weil sie es in den letzten drei Jahren nicht nur geschafft hat, immens viel Kohle mit ihren EPs und Mixtapes zu machen, sie hat sich damit auch äußerst gut im internationalen Musikbusiness etabliert. Ohne fertiges Album diverse renommierte Kritiker*innenpreise zu gewinnen, ist auch 2021 keine leichte Sache und das Meisterstück, für ein Vor-Debüt-Release einen Grammy zu bekommen, hat sonst nur Chance the Rapper geschafft. Dass H.E.R. schon jetzt eine ganz schöne Hausnummer ist, ist also einfach ein Fakt. Weshalb es auch kein Wunder ist, dass ihr tatsächlicher offizieller Erstling dieser Tage entsprechend bombastisch ausfällt. Mit guten 80 Minuten Spielzeit und insgesamt 21 Tracks ist das hier für ein Debüt ziemlich happig, und auch vom Hörerlebnis fühlt sich das hier in keinem Moment an wie das erste Album dieser Künstlerin. Mit einer kleinen Armada von Songwriter*innen und Producer*innen im Rücken schreibt die Kalifornierin hier Songs, die schon jetzt  so großkotzig und einnehmend klingen wie Beyoncé es sich erst auf ihrem vierten Album traute und definitiv die größtmögliche Bühne suchen. Wobei sie in meinen Augen auch durchaus eine Berechtigung dazu haben. Denn der rote Faden, der sich durch Back of My Mind zieht, ist die starke kompositorische Federführung von Wilson und eine fast durchweg überzeugende Performance. Was H.E.R. auf dieser LP macht, ist R'n'B auch Erstliganiveau, der eindeutig für ein Publikum von 2021 geschrieben wurde und seine repräsentative Position für Popmusik in dieser Saison souverän einnimmt. Was auch definitiv bedeutet, dass es hier keine eindeutigen Quotenhits geben muss, mit denen man die Leute erstmal lockt, denn die sind ohnehin schon hier. Und ob der guten Erfahrungen mit den letzten Platten anscheinend bereit, sich anderthalb Stunden soften Neo-Soul mit eher überschaubarer Dichte an fetzigen Hooks und hochkarätigen Features zu geben. Was von Seiten der Künstlerin schon ein beachtlicher Powermove ist. Und das nicht nur in Sachen Songwriting, auch in Sachen Kollaborationen. Es wäre locker möglich gewesen, sich für diese LP einen Drake, einen Future oder einen Travis Scott einzuladen, Wilson entscheidet sich aber eher für Leute wie Ty Dolla $ign, Lil Baby, Yung Bleu, Cordae oder Bryson Tiller. Die sind zwar alles in allem auch keine Niemande, es wird hier aber sehr schnell klar, dass sie nicht aufgrund ihrer Clout ausgewählt wurden, sondern weil sie zu den Songs passen, in denen sie auftauchen. Ebenso wie Ein Hit-Boy, ein Kaytranada oder ein Thundercat auf Produzentenseite. Mit DJ Khaled und Chris Brown sind hier zwar auch zwei Leute am Start, die ich lieber nicht in den Credits gesehen hätte, um ehrlich zu sein sind aber auch deren Performances ziemlich in Ordnung. Und rein von der musikalischen Seite ist es auch fast schon egal, da H.E.R. am Ende sowieso immer diejenige ist, die alles überstrahlt. Back of My Mind ist mit all seiner Aura, seiner kreativen Energie, seiner kompositorischen Herangehensweise und nicht zuletzt seiner Größe zumindest für mich gerade ein Album, das großen Respekt verdient und ein Statement für diese Frau setzt, das absolut eineindeutig ist. Nach einer handvoll krass erfolgreicher EPs und Singles will sie hier ihren Fußabdruck in die zeitgenössische Pop-Landschaft einbetonieren. Nicht nur kommerziell, sondern auch künstlerisch. Und mit einem Longplayer, der nicht nur gut sein soll, sondern Maßstäbe setzt. Von dem man in zehn Jahren so spricht wie heute von einem Lemonade oder einem Take Care. Diese Ambition ist sicher hoch gegriffen, doch setzt Back of My Mind in meinen Augen die Parameter richtig, um genau das zu schaffen. Dass es passiert, ist also durchaus im Bereich des möglichen. Und ich für meinen Teil bin auf jeden Fall auch der Meinung, dass es passieren sollte. Denn wenn das hier gerade Mal das Debüt dieser Frau ist, bin ich extrem gespannt, wohin ihr Weg zukünftig noch führt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡08/11

Persönliche Höhepunkte
We Made It | Trauma | Damage | Find A Way | Bloody Waters | Closer to Me | Come Through | My Own | Lucky | Cheat Code | Paradise | Process | Hold On | Don't | Slide

Nicht mein Fall
Exhausted | Hard to Love | For Anyone


Hat was von
Arlo Parks
Collapsed in Sunbeams

Ariana Grande
Thank U, Next


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