Montag, 28. Juni 2021

Das Ziel im Rücken

Tyler, the Creator - Call Me If You Get Lost TYLER, THE CREATOR
Call Me If You Get Lost
Columbia
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ soulig | quirky | vertraut ]

Wenn ich eines für mich persönlich aus der Tyler, the Creator-Diskografie der letzten fünf Jahre gelernt habe, dann dass der Schlüssel zu seiner Musik vor allem Geduld sein kann. Keine Ahnung, ob es nur bei mir so ist, doch habe ich festgestellt, dass ich zumindest für seine letzten paar Platten immer ein bisschen Zeit gebraucht habe, um deren künstlerischen Tiefgang und visionäre Energie selbiger zu erkennen. Sowohl Igor als auch Flower Boy waren in meiner Welt Alben, die ich zunächst eher durchwachsen fand, die sich aber innerhalb der letzten ein bis zwei Jahre zu persönlichen Highlights des Tyler-Katalogs entwickelt haben. Im Fall seiner Durchbruchs-LP Goblin von 2011 hat es sogar bis jetzt gedauert, um mich wirklich mit ihr einzugrooven, dafür ist sie inzwischen sogar eine meiner definitiven Lieblingsplatten aller Zeiten. Der Meinung, dass Tyler, the Creator einer der besten Rap-Protagonisten der letzten Dekade ist, bin ich also durchaus, die Erkenntnis hat nur seine Zeit gedauert. Und ich habe versucht, diesen Umstand im Hinterkopf zu behalten, als ich nun diesen Text über seine neueste LP Call Me If You Get Lost schrieb. Denn auch hier geht es mir in erster Instanz wieder ähnlich wie die letzten Male. Ein paar Tage nachdem die Platte draußen ist bin ich erstmal ziemlich ernüchtert und empfinde ziemlich wenig von dem, was der Rapper mir hier mitgibt. Wobei der Grund dafür auch ein weiteres Mal der ist, dass ich nicht so richtig das besondere an diesen Songs erkenne. Zumindest an den meisten. Wenn ich an Einzeltracks denke, die mir von den insgesamt 16 Stücken hier in Erinnerung bleiben, dann sind das am ehesten die beiden Longtracks Sweet / I Thought You Wanted to Dance und Wilshire, die beide auf eine Spielzeit von über acht Minuten kommen und damit schon strukturell anders gebaut sind. Ersterer beeindruckt dabei gerade im zweiten Part mit seiner eigenwilligen Mischung aus schnulzigem Roots-Reggae-Instrumental und bratzigen Dancehall-Scats, letzterer ist deshalb cool, weil Tyler hier zum ersten Mal seit seinen Goblin-Zeiten in ein ambitionierteres Storytelling-Thema vorstößt und damit ein lange verborgenes Talent wieder aufleben lässt. Abgesehen davon wird die Luft auf Call Me aber recht schnell dünn. So gut wie der komplette Rest der ersten Hälfte besteht aus relativ kurzen Vignetten und Songs, die es nicht wirklich schaffen, einen souveränen Charakter aufzubauen und einfach nur relativ ereignislos ineinander fließen. Der zweite ist ein ganzes Stück besser, doch sind Stücke wie Rise! oder Safari zu wenig, um so spät wirklich noch was zu reißen. Effektiv schwach ist dabei zwar auch kaum ein Stück, nur irgendwie ziemlich egal. Ästhetisch ist vieles dabei dem Sound von Flower Boy sehr ähnlich und mit Songs wie Lumberjack oder Juggernaut gibt es auch wieder ein paar heftigere Hiphop-Bretter als auch Igor, die aber ebenfalls nicht so ballern wie früher ein Deathcamp oder ein Who Dat Boy. Die einzige kleine Weiterentwicklung, die auf Call Me deutlich sichtbar wird, findet sich am Ende in den Lyrics. Hier wird Tyler in meinen Augen noch ein bisschen geschickter darin, sich seine eigene kleine Wes Anderson-Fantasiewelt zu bauen, in die er die Themen seiner Songs einpflanzt und die auch in seinen Videos immer konsequenter zum Vorschein kommt. Was das angeht, fühlt sich dieses Album tatsächlich ein bisschen wie das Ergebnis dessen an, woran er seit circa 2015 arbeitet, musikalisch ist es dafür wieder ein ziemlicher Rückschritt. Was schade ist, denn wenn man eines über Tylers Musik in den letzten Jahren sagen konnte, dann dass sie immer in Bewegung war. Wenn man sich den Sound von Igor ansieht, gibt es Elemente davon, die sich bis zu Sachen wie Wolf zurückverfolgen lassen und man konnte seit seinem Durchbruch vor einer Deakde mitverfolgen, wie seine künstlerische Vision Form annimmt. Auf Call Me hält diese kontinuierliche Metamorphose erstmals nicht nur an, sondern fühlt sich auch irgendwie abgeschlossen an. Wobei das Ergebnis allerdings nicht so wirkt, als wäre es das ultimative Endresultat dieser Entwicklung. Es fühlt sich eher an wie ein etwas awkwarder Zwischenstopp, für den Tyler eigentlich viel zu clever ist. Und nach so viel großartigen Alben, die er mindestens seit Cherry Bomb extrem verlässlich abliefert, ist das schon ein bisschen unbefriedigend. Obwohl Call Me an und für sich also kein schlechtes Album ist, ist es schon eines seiner bisher schwächsten. Und diesmal habe ich irgendwie auch das Gefühl, dass sich an dieser Auffassung für mich so schnell nichts mehr ändert. Selbst wenn ich mich darüber eigentlich echt freuen würde.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
Lemonhead | I Thought You Wanted to Dance | Rise! | Juggernaut | Wilshire | Safari

Nicht mein Fall
Sweet


Hat was von
Chance the Rapper
Coloring Book

Brockhampton
Roadrunner: New Light, New Machine


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