Mittwoch, 16. Mai 2018

Neue Wellen




















Man kennt im Progrock mittlerweile das Problem des eigenen Paradoxons. Wenn jene Musik, die sich irgendwann mal als "progressiv" bezeichnet hat, genau das irgendwann nicht mehr ist. Sogenannte Prog-Acts teilen sich 2018 meist in diejenigen, die unverblümt den gleichen klanglichen Idealen nacheifern wie ihre Idole in den Siebzigern und damit inzwischen eher Retro sind als fortschrittlich und die Anderen, die zwar verzweifelt versuchen, doch noch auf Innovation zu gehen, dabei aber eigentlich nur in ihrer eigenen Robotisierung verschwinden oder alternativ ihren Sound bis zur Unmenschlichkeit verchromen. Mit seinem immens hohen Anspruch an sich selbst hat es diese Fraktion der Rockmusik in ihrer Depression wahrscheinlich am schlimmsten erwischt. Was in diesem kulturellen Kontext nicht ohne Grund die Frage auftauchen lässt: Kann Rock heutzutage eigentlich noch progressiv sein? Ich für meinen Teil meine ja, sofern man mal abseits der üblichen Pfade schaut. Zum Beispiel ins ungarische Makó, wo bereits seit 20 Jahren eine der stärksten Kräfte innovativer Progmusik wirkt. Thy Catafalque heißt das Soloprojekt des Multiinstrumentalisten Tamás Kátai, das in den letzten Jahren bei den Nerds der Szene für feuchte Hände sorgt und das eben nicht nur durch technische Finesse und schräge Taktzahlen, sondern durch echte Progressivität. Was Kátai hier stilistisch macht, lässt sich begrifflich schwer fassen, da er seine musikalischen Einflüsse scheinbar von überall her holt: Neben bratzigen Djent-Metal-Passagen und pfiffigen Gitarrensoli interessiert er sich nebenbei auch für New Wave, diverse Gattungen europäischer und orientalischer Folkmusik, Jazz, Industrial und Postrock, wobei er es regelmäßig schafft, all diese Elemente gleichzeitig in Songs unterzubringen. Mit dieser Rezeptur wurden bereits vor zwei Jahren, als er seine letzte LP Meta veröffentlichte, einige Szene-Expert*innen auf ihn aufmerksam und durch sie letztendlich auch ich. Von der neuen Platte Geometria erwartete ich folglich nicht weniger als eine persönliche Neudefinition des Begriffs Progrock für 2018, die vielleicht wirklich mal anders war. Und in dieser Hinsicht hat Thy Catafalque eigentlich gar nicht mal so schlecht abgeliefert. Was man hier hört ist ein Album, das komplett nach modernen Maßstäben funktioniert, die Seele der Rockmusik aber auch nicht an Trends verkauft. Das in gewissen Punkten an Genre-Maßstäben festhält, diese aber in entscheidenden Belangen auch wieder loslässt. Vor allem kann man Geometria (im Gegensatz zu manch anderen Dingen in Ungarn) aber in keinem Moment vorwerfen, konservativ zu sein. Und das ist es letztendlich irgendwie, was Progressive Musik als Gedanken für mich ausmacht. Wenn man also fragt, ob das hier ein sehr innovatibes Rockalbum ist, kann ich mit einem deutlichen ja antworten. Die Frage, ob es auch ein gutes Album geworden ist, fällt dagegen schon schwerer. Denn kompositorisch wie klanglich kommt Thy Catafalque hier nicht ohne gewisse Schwächen daher. Zwar kann er verschiedene Stile unglaublich gut verweben und gegeneinander kontrastieren, doch wirklich packende Melodien bringt er dabei eher selten zustande. Auch in der Umsetzung hapert es, da die Synthesizer häufig nicht gerade den fettesten Klang haben und Tamás Kátai als Sänger eher dürftig bleibt. Schlussendlich ist das ganze dann auch noch ganz schön schlampig produziert und der erwünschte Album-Flow bleibt die meiste Zeit so gut wie komplett aus. Ein Hochgenuss ist Geometria also eher selten. Dennoch kann ich Songs wie Töltés, Lágyrész, Balra A Nap und Tenger, Tenger als Einzeltracks sehr empfehlen. In ihnen erkennt man, was für fantastische künstlerische Perspektiven dieser Typ wirklich hat und wie grandios er diese auch umsetzen kann. Schade nur, dass nebenbei auch so viel Müll mit rauskommt. Für mich wird vieles an dieser Platte wahrscheinlich im Bereich des theoretisch guten bleiben, das ich mag, weil es neue Möglichkeiten aufweist. Für diejenigen, die sich für sowas interessieren, kann ich Geometria definitiv trotzdem empfehlen, sowie eigentlich den gesamten Katalog von Thy Catafalque. Dass ich es nicht mag, heißt ja nicht, dass andere es auch doof finden müssen. Und wenn einer mehr Aufmerksamkeit verdient, dann definitiv dieser Typ hier.






Persönliche Highlights: Hajnali Csillag / Töltés / Sárember / Hajó / Lágyrész / Balra A Nap / Tenger, Tenger / Ének A Búzamezőkről

Nicht mein Fall: Számojed Frésko / Sík

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