Sonntag, 16. Juli 2017

Im Ton vergriffen

Live in Europa. Eigentlich ein sehr simpler Titel für eine Live-LP, doch im Falle der Nerven auch einer, der Bände spricht. "Live in Stuttgart" oder "Live in Berlin" hätte es vor zwei bis drei Jahren vielleicht noch gehießen, aber mittlerweile hat das Postpunk-Trio aus Baden-Württemberg endgültig die nächstgrößere Bühne betreten. Spätestens seit ihrem Deal mit Glitterhouse und dem letzten Album Out sind sie so etwas die internationalen Posterboys der Stuttgarter Zelle geworden, vielleicht sogar der gesamten deutschsprachigen Punkrock-Szene Stand 2017. Und demzufolge gäbe es auch keinen besseren Moment, um ein Live-Album zu veröffentlichen. Zum einen, weil man ja nie so richtig weiß, wie lange dieser Zustand anhält und zum anderen, weil die Nerven spielerisch gerade in einer äußerst spannenden Phase sind. Als vor eineinhalb Jahren Out rauskam, kannte man die Band als Kompositions-Minimalisten, die ihre kurzen Tracks möglichst roh formulierten und dabei die Aussage deutlich in der Vordergrund rückten. Jene LP verschob den Fokus jedoch mehr und mehr auf die musikalische Ebene und man erkannte hier ein plötzliches Faible für langwierige Jams und psychedelische Repetition, die fast nach Stonerrock anmuteten. Und in den auf Live in Europa festgehaltenen Performances findet sich diese Leidenschaft erneut wieder. Dass Stücke auf der Bühne gerne etwas länger sind und neu ausformuliert werden können, ist auch im Punkrock inzwischen nichts neues mehr, doch auf diesen 70 Minuten erkennt man den Punk-Bezug der Band eigentlich schon gar nicht mehr. Bis zu achteinhalb Minuten werden Songs hier teilweise ausgenudelt und in vielen Fällen besteht genau darin auch der größte Mehrwert dieser Aufnahmen. Denn abgesehen davon ist vieles hier eher überraschungsarm. Die Nerven spielen vor allem ihre letzten beiden Alben sehr ausführlich, wobei die von Out hier in deutlicher Überzahl sind, darüber hinaus gibt es den Fluidum-Klassiker Der letzte Tanzende auf sieben Minuten zurechtgeschwiegen und ein Joy Division-Cover. Die meisten Sachen sind dabei schon ziemlich gut performt und so, aber was fehlt ist die eigentliche Essenz einer Live-Platte: Man bekommt auf Live in Europa nicht den Eindruck, hier an einem besonderen Moment teilzuhaben. Durch die Nebengeräusche und die Musik an sich wird zwar klar, dass bei den Shows wohl eine ziemlich atemberaubende Atmosphäre geherrscht haben muss, doch diese überträgt sich kein bisschen auf die Aufnahmen. Der Sound der Platte ist eine Katastrophe (keine Ahnung, ob das nun an der Abmischung des Konzerts oder an der miesen Qualität des Mitschnitts liegt) und auch die Interaktion der Musiker lässt an vielen Stellen zu wünschen übrig. Wenn man direkt im Club steht und diese Songs tatsächlich in Farbe erlebt, mag das alles kein Problem sein, aber die Veröffentlichung auf Platte ist in dieser Hinsicht eher kontraproduktiv. Als DLC-Bootleg-Bonus für die nächste Studio-LP wäre das okay gewesen, aber eine 180 Gramm-Doppelvinyl für 30 Euro ist bei diesem Ergebnis definitiv ein bisschen übertrieben. Wenn es um sowas geht, sind die Nerven 2017 definitiv sehr wenig rammelige Kellerpunk-Truppe, sondern schon ganz schöne Rockstars. Trotz allem könnte ich mir aber immer noch ins Bein schießen, dass ich sie selbst noch nicht live gesehen habe.





Persönliche Highlights: Hörst du mir zu / Gerade deswegen / Blaue Flecken / No Love Lost / Jugend ohne Geld / Den Tag vergessen / Die Bösen

Nicht mein Fall: Die Unschuld in Person / Der letzte Tanzende / Angst

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