Samstag, 7. April 2018

In Echt: Gehörsturz unter den Sternen

"Achsooo, das war dein erstes Mal bei Tocotronic? Und, wie hats dir gefallen?" sind zwei Fragen, die ich gestern vielleicht einmal zu oft gehört habe. Als wohlwollender Neugieriger auf ein Konzert der Hamburger zu gehen, ist anscheinend nicht die Motivation, die bei einer solchen Veranstaltung normal ist. Wer hierher geht, ist in den meisten Fällen Fan. Und Fan zu sein, bedeutet in dieser Hinsicht das volle Programm: Das Shirt vom Gig zu tragen, den man 1996 besucht hat, Texte aus 25 Jahren auswendig können und absolut jeden davon als persönliche Hymne zu definieren. Diese Leute können mitunter ziemliche Nerds sein. Ist aber auch verständlich, wenn die Akteure diese Leidenschaft so inbrünstig zu teilen verstehen. Ein Tocotronic-Konzert ist für sie in vielerlei Hinsicht wie ein Heimspiel des geliebten Fußballvereins, den sie seit Jahren unterstützen. Und der gestrige Abend war ein ziemlicher Kantersieg. Gute zwei Stunden spielt das Quartett in Leipzig, wie an vielen Stationen der aktuellen Tour, drei Zugabenblocks inklusive, und lässt dabei ein Set vom Stapel, das wahrscheinlich alle Fanlager einsammelt. Auch die Leute wie mich, die eher aus Interesse gekommen sind. Dabei war der Anfang durchaus nicht einfach: Der Sound im Werk 2 ist suboptimal, was schon bei der (übrigens sehr empfehlenswerten) Vorband Ilgen-Nur auffällt. Der Gesang ist viel zu leise, aber dafür mit überbetonten Zischlauten, ständig stört Feedback die Songs und insgesamt herrscht eine Lautstärke, die vielleicht nicht hätte sein müssen. Selbst mit Gehörschutz ballert die Anlage so derbe, dass man bald leicht ertaubt ist. Nicht gerade das optimale Setting für eine Zuhör-Band wie Tocotronic. Wobei auch letzteres eher relativ ist. Das, was die Hamburger klanglich aus ihrem Set machen, ähnelt an manchen Stellen eher einer psychedelischen Noiserock-Show, womit sie die Not der fehlenden klanglichen Finesse zur Tugend umgestalten: Wenn sie Krach wollen, sollen sie Krach kriegen. Schall und Wahn, um es mit ihren eigenen Worten zu sagen. Im Nachhinein nicht die schlechteste Entscheidung, auch wenn der Anblick einer Moshpit zur Musik dieser Band noch immer etwas surreal erscheint. Aber daran muss man sich gewöhnen: Tocotronic sind Rockstars, wenn auch auf eine weirde Art und Weise. Die sie an diesem Abend auch gehörig zelebrieren. Zu den Klängen von Sergej Prokofjews Rittertanz betreten die vier Musiker um kurz nach neun die Bühne, die von einer Schwarzlicht-Replikation des Sternenhimmels vom Unendlichkeit-Albumcover erstrahlt wird und begrüßen das Publikum. Der neue Titelsong als Opener ist ahnbar, doch auch das letzte wirklich vorhersehbare am heutigen Set. Schon Electric Guitar als zweiten Titel hätte ich eher am Ende der Liste vermutet und dass die Band bereits kurze Zeit später den ersten Oldschool-Block abfeuert, ist dann definitiv eine Überraschung. In direkter Abfolge kommen mit Let There Be Rock, Drüben auf dem Hügel und Kapitulation drei absolute Klassiker der Formation, zu denen sich Front of Stage (wo auch ich mich zu diesem Zeitpunkt befinde) die Moshpit formiert. Im Normalfall ein Spektakel, an dem ich mit Vergnügen teilhabe, in Anbetracht der Tatsache, dass ich von den Stücken kaum etwas mitkriege aber eher ungünstig. In einer kurzen Moderationspause und in der vergleichsweisen Ruhe des anschließenden Wie wir leben wollen verziehe ich mich deshalb etwas weiter an den Rand des Geschehens, wo ich mich sicher wähne. Als kurze Zeit später Aber hier leben, Nein Danke anmoderiert wird, ist auch das wieder passé. Zum Glück sind die ganz großen Klassiker danach fürs erste abgehakt und das Set bewegt sich in Richtung einiger Deep Cuts, die für mich zu den heimlichen Highlights des Gigs werden. This Boy is Tocotronic wird zum Noise-Monster, Unwiederbringlich spielt Dirk von Lowtzow allein auf der Gitarre, Mach es nicht selbst wird von der Band zu Tode gestampft und Alles was sich immer wollte war alles entpuppt sich live als großartiger Closer. Natürlich bedeutet das nicht, dass Tocotronic damit fertig sind. Mit den drei Zugabenblöcken, die heute stattfinden, wird es nochmal richtig spannend. Klar ist das alles total durchgeplant, die vier Songs, die hier gespielt werden, wurden in gleicher Reihenfolge auf der gesamten Tour so dargeboten, trotzdem macht es natürlich Spaß. Die Musiker lassen sich endlos feiern (was sie verdient haben) und spielen noch ein paar richtig große Schinken. Teil Eins beinhaltet Hi Freaks, mein persönliches Lieblingslied der Hamburger und wird anschließend mit Letztes Jahr im Sommer nochmal richtig oldschool. Nach einer leidigen Pause, in der vor allem die Stagehand der Band für Unterhaltung sorgt, kommt allerdings mein persönliches Highlight: Den Kapitulation-Song Explosion zerfahren Tocotronic zu einem unerbittlichen Shoegaze-Brett, das nicht nur unglaublich laut, sondern auch ganz schön finster daherkommt und mit dem mantraartig wiederholten "kein Wille triumphiert" nochmal extra absahnt. Dass die Hamburger My Bloody Valentine mal so nah kommen, hätte ich vorher auch nicht vermutet. Stilgerecht werden danach Gitarren gegen Verstärker gehalten und Effektgeräte verstellt, bevor die Band erneut die Bühne verlässt und die Lichtshow sowie ein Konserven-Outro ankündigen, dass der Vorhang gefallen ist. Und während die ersten den Raum bereits verlassen, gehen Tocotronic für die nächste Runde in die Startlöcher, die nun wirklich die letzte sein soll. Freiburg ist als endgültiger Closer nochmal Fanservice pur, womit dann auch wirklich alle zufrieden gestellt sein sollten. Auf dem Index der Publikumsbefriedigung haben die Hamburger eigentlich alle Kategorien abgehakt und eine Bandbreite geliefert, die 25 Jahren Bestehen in jeder Hinsicht gerecht wird. Ein fetter Bonus war in meinen Augen die unglaublich sehenswerte Lichtshow des Konzerts, die mit wenig Brimborium für viel Ambiente sorgte. Dass der Ton etwas scheiße war und ein Wunschsong wie 1993 nicht gespielt wurde, ist da wirklich fast zu vernachlässigen. Tocotronic machen das wett, indem sie einfach eine gute Band sind, die gute Songs spielt. Und schon höre ich mich plötzlich auch an wie einer dieser Fanboys, von denen ich eigentlich keiner sein möchte. Aber höchstwahrscheinlich wird das erste Mal nicht das einzige Mal bleiben.

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