Sonntag, 8. August 2021

Der blutige Pfad Gottes

Lingua Ignota - Sinner Get Ready LINGUA IGNOTA
Sinner Get Ready
Sargent House
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ disharmonisch | sakral | brutal | badass ]

Bereits vor zwei Jahren, als Kristin Hayter mit ihrem zweiten Longplayer Caligula die Herzen der internationalen Musiknerd-Community eroberte, hatte ich vermutlich diese Eingebung, doch möchte ich sie an dieser Stelle auch nochmal öffentlich kundtun: Auf einer ganz persönlichen Ebene ist Lingua Ignota für mich das Projekt, das Chelsea Wolfe die gesamte letzte Dekade nie sein konnte. Ein Projekt, das sich auch jenem okkult-verposteten Barock-Drone-Goth-Industrial-Sound verschrieben hat und extrem düstere Songs schreibt, diese aber nicht als Ersatz für tatsächlich interessante Kompositorik verwenden muss, um interessant zu sein. Was Caligula 2019 so cool machte, war nämlich nicht nur die Tatsache, dass Slayter auf dieser Platte wirkte wie die dunkle Hohepriesterin aus der Verwandtschaft von Siouxie Sioux und Nick Cave, sondern diese Ästhetik auch inhaltlich und performativ mit Leben füllte. Von ihrer thematischen Auseinandersetzung mit Missbrauch und Traumata über ihre brilliante gesangliche Leistung bishin zur cleveren Produktion des Albums war Lingua Ignota nicht nur die Hülle von gut gemachtem Düsterpop, sondern genauso die Substanz. Und auch wenn all diese Attribute auf ihre neue LP Sinner Get Ready prinzipiell deckungsgleich anwendbar sind, ist die wirklich gute Nachricht dabei, dass hier alles noch ein kleines bisschen besser und geschickter umgesetzt wurde. Wobei das objektiv gesehen auch bedeutet, dass diese Platte vielleicht ein bisschen schwerer zugänglich ist als ihr Vorgänger und nochmal auf ganz andere Weise herausfordernd. Schon die meisten Sachen auf Caligula waren ja keineswegs leichte Kost, sowohl inhaltlich als auch musikalisch, doch war die LP im Kontext eines avantgardistischen Goth-Industrial-Projekts doch einigermaßen ahnbar. In Sinner Get Ready hingegen muss man sich erstmal ausführlich reinhören, ist anschließend aber auch umso faszinierter von den Wegen, die diese Musik hier geht. Das liegt vordergründig daran, dass Slayter ihre stilistische Palette nochmal um einiges erweitert hat und vor allem in den Bereich Folk mächtig ausbaut. An vielen Stellen ist dieses Album deutlich weniger lärmig als sein Vorgänger und bisweilen sogar ziemlich melodisch unterwegs. Was aber spätestens in den Momenten auch gründlich ausgehebelt wird, in denen zu klanglichen Jumpscares angesetzt wird und Songs teilweise in komplette Kakophonien übergehen. Das beste Beispiel dafür ist sicherlich der klaftertiefe Drop, den the Order of Spiritual Virginity nach den ersten paar Minuten vollzieht und der das Album nicht zum letzten Mal in spürbar infernalische Zustände pusht. Passend dazu hat sich hier auch die gesangliche Performance von Slayter entscheidend verändert, die häufig in choralisch-operatische Passagen, teilweise sogar in theatrale Monologe verfällt, die alle auf ihre Art faszinierend sind. Nicht selten doppelt sie ihre Gesagsspuren zu grotesk-verschnörkelten (Dis-)harmonien, die erneut ihr monumentales stimmliches Register und ihre beeindruckende emotionale Energie offenbaren. Richtig genial wird es aber erst in Songs wie I Who Bend the Grasses oder Repent Now Confess Now, in denen sie jene wie in Trance gesprochenen höllischen Verwünschungen rezitiert, bei denen sie endgültig wirkt wie von finsteren Mächten besessen. Die grandiose Gesangleistung von Slayter wäre allerdings auch nur halb so grandios, hätte sie diese nicht erneut mit durchweg fantastischen Lyrics kombiniert, die zum Gesamtkonzept des Albums ebenfalls enorm beitragen. Wie schon auf Caligula sind diese vor allen von religiösen Sprachbildern geprägt, die nicht selten wirken wie der Inhalt einer altertümlich-orthodoxen Predigt, die den entspannten Vibe einer Hexenverbrennung verbreitet. Immer wieder ist dabei die Rede vom rechtschaffenen Weg des Sakraments, vom Blut Jesu, von irgendwelchen heiligen Salbungen und ähnlichen Dingen, die die Kids heutzutage so cool finden. Doch obwohl Slayter dabei niemals aus ihrer Rolle aussteigt und diese Themen subversiert, wird in jedem Moment klar, dass Sinner Get Ready eben nicht das Werk einer puritanischen Sektenspinnerin ist, sondern sich lediglich starker Metaphern bedient. Wofür genau, ist dabei selten gänzlich klar, doch geht es auch hier sicher um innere Traumata, Gewalterfahrungen und tief empfundene Hoffnungslosigkeit. So oder so ist das hier ein weiteres Album von Lingua Ignota, das keineswegs leichtfertig angegangen werden kann, am Ende aber auch durch eine groteske Schönheit begeistert. Was mich hieran letztendlich am meisten fasziniert, sind nicht die cleveren lyrischen Narrative oder irgendein inhaltlicher Überbau, sondern die erbarmungslose Ästhetik, die hier ernsut richtig gut umgesetzt wird. Für mich persönlich ist ein Album wie dieses Goth in Reinkultur, der eine obskure Poesie in dieser düsteren Palette von Stimmungen findet. Und dabei auch ganz einfach richtig auf die Kacke haut. Wobei letzteres inzwischen wahrscheinlich das ist, was Kristin Slayter am besten kann.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
The Order of Spiritual Virginity | I Who Bend the Tall Grasses | Many Hands | Pennsylvania Furnace | Repent Now Confess Now | the Sacred Litament of Judgement | Perpetual Flame of Centralia

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Chelsea Wolfe
Hiss Spun

Soap&Skin
Narrow


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