Sonntag, 2. Juni 2024

Die Wochenschau (27.05.-02.06.2024): St. Vincent, Justice, Full of Hell und und und...

 





JUSTICE
Hyperdrama
Genesis | Because

Mit acht Jahren zwischen dem letzten Album Woman von 2016 und diesem neuen hier haben Justice erneut eine Rekordwartezeit vorgelegt, die ich ihnen wahrscheinlich eher verzeihe als den meisten anderen Bands. Denn wenigstens kann man sich bei ihnen immer sicher sein, dass das Ergebnis am Ende kein willkürlich zusammengeschrauter Cashgrab ist, sondern ein sorgfältig kuratiertes Gesamtkunstwerk, das im Idealfall sogar ein oder zwei echte Banger abwirft. Und obwohl auch Hyperdrama nicht die Platte ist, die in meinen Augen die sensationelle Frühphase der Franzosen beerbt, ist es doch ein weiteres Mal effektive Erwartungserfüllung. Klanglich bringen Gaspard Augé und Xavier de Rosnay den gigantoesken High Energy-Elektropop ihres Debüts mit den melodischeren Disco-Momenten von Woman zusammen und setzt dabei auch mehr denn je auf Zuarbeit von außen. Kevin Parker von Tame Impala ist gleich in zwei Songs dabei, Thundercat veredelt den Closer the End und Miguel trägt direkt davor in Saturnine maßgeblich zu meinem persönlichen Album-Highlight bei. Gejammert werden darf auf diesem hohen Niveau aber auch ein bisschen, denn obwohl es auf Hyperdrama keine effektiven Schwächen gibt, würde ich mir von ihnen auch mal wieder ein etwas kreativeres Album wünschen, das über bewährte Ästhetiken so hinausgeht, wie es Audio Video Disco vor 13 Jahren tat.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11
 
 
 
 

ST. VINCENT
All Born Screaming
Total Pleasure

 
 
 
 
 
 
 
 
 
Angekündigt hatte Annie Clark auf All Born Screaming einen Paradigmenwechsel hin zu einem ungeschönterem und düsterem Album, auf dem sie erstmals selbst als Produzentin aufteten würde und das demzufolge direkt aus ihrem innersten kommen würde. Und wo ich mir aufgrund der ersten Single Broken Man im März zunächst ein sehr konfrontatives, zorniges Stück Musik ausgemalt hatte, kann St. Vincent am Ende eben auch nicht ohne ein paar gut platzierte Artpop-Schnörkel. Vor allem klanglich kommt hier so eine über weite Strecken eher etwas bittersüße Platte raus, die ausgerechnet in ihren leichten und am wenigsten verrohten Momenten die schönsten Überraschungen bereithält. Sachen wie der Anflug von Reggae in So Many Planets oder der windschiefe Beat in Sweetest Fruit sind deshalb die eigentlichen Highlights der LP, auch wenn sie ein bisschen entgegen der eigentlichen Message funktionieren. Und obwohl auch diese zehn Songs nicht dafür sorgen, dass ich meine irgendwie kultivierte Skepsis gegenüber dem Output dieser Künstlerin komplett ablege, ist All Born Screaming doch auf jeden Fall überzeugender als der komplette Rohrkrepierer Daddy's Home von 2021 und wenn ich ehrlich bin ihre beste Platte seit einer halben Ewigkeit. In meinen Augen mindestens seit Masseduction, wahrscheinlicher sogar seit Strange Mercy.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





FULL OF HELL
Coagulated Bliss

Closed Casket Activities

Erst im Januar hatte ich hier im Zuge einer Besprechung zu ihrem Schulterschluss mit Nothing meine Überzeugung argumentiert, dass Kollabo-Platten mit anderen Bands der eigentliche kreative Kern des Full of Hell-Katalogs wären und abseits davon nur selten wirklich hochwertiges zu finden ist. Und wie um mir persönlich eins auszuwischen erscheint nur wenige Monate später eine der bisher sehr wenigen "Solo"-Alben der Grindcore-Formation, auf die genau das nicht zutrifft und die von vorne bis hinten ziemlich geil ist. Nicht nur dass die Band hier die üblichen Genre-Fettnäpchen umschifft und eindeutig mehr zeigt als schlecht abgemischtes, einförmiges Gegrunze, sie geben sich hier richtiggehend entgrenzt und probieren kompositorisch viele spannende Sachen aus. An sich ist ja das auch nichts neues und ich würde Full of Hell sogar als einen der experimentellsten mir bekannten Grindcore-Acts bezeichnen, aber wie gesagt, normalerweise kommt diese Qualität nur dann wirklich raus, wenn sie mit Anderen zusammenarbeiten. Coagulated Bliss fühlt sich jetzt eher wie das Album an, das aus diesen zahlreichen und vielschichtigen Begegnungen in den vergangenen 15 Jahren gelernt hat und endlich für sich weiterdenken kann.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





LOST$ICKPUPPY
Carousel From Hell
Die-Ai-Wei

Sportliche 18 Minuten lang ist das Debütalbum des New Yorker Ein-Mann-Digital Hardcore-Projekts Lost$ickPuppy und sucht sich in klanglicher Hinsicht fast alle Extreme zusammen, die man sich vorstellen kann. Die wichtigsten stilistischen Andockpunkte seiner Musik sind Noise, Industrial, ein bisschen Breakcore und die Art von Hiphop, die am ehesten noch Death Grips machen, wobei der Vergleich zu letzteren aktuell auch von vielen gemacht wird. Im Unterschied zu denen hat Hayes sich für Carousel From Hell aber auch an den Errungenschaften des Digicore bedient und zieht das Tempo nochmal merklich an, was im Ergebnis für ein in vielerlei Hinsicht brutales Album sorgt, das mal wieder ein Exempel daran statuiert, welche Extreme man in der modernen Popmusik dann doch noch ausloten kann.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11






BABEHOVEN
Water's Here in You
Double Double Whammy

Was ist so bedonders an einem Projekt wie Babehoven, das sich in vielerlei Hinsicht in eine große Zahl von mädchenhaft-melancholischem Indie-Garagen-Folk-Rock einreiht? Nun ja, auf diesem zweiten Album erstmal nicht unheimlich viel, aber die Ansätze sind da. Zunächst mal ist es ein gutes Zeichen, dass die Band jetzt zum wiederholten Mal beim Label Double Double Whammy veröffentlicht, das in der Vergangenheit schon bei Leuten wie Mitski, Hatchie oder Florist den richtigen Riecher hatte, zum anderes zeigt sich in einzelnen Momenten von Water's Here in You durchaus einiges Potenzial. Der Opener Birdseye ist ein Indiefolk-Träumchen wie aus dem Lehrbuch, Dizzy Spin mischt ein wenig Dreampop bei, in Millenia und Cherry experimentiert die Band mit fast ambienter Synthetik und bei Good to See You hat sogar ein klitzekleiner Americana-Einschlag Platz. All das ist noch nicht wirklich genug, um Babehoven entscheiden zwischen ihren Zeitgenoss*innen herauszuheben, das Rüstzeug ist aber auf jeden Fall da. Und vielleicht reichen am Ende ein oder zwei gute Songs, um sie über längere Zeit ins System zu kriegen und nachher richtig Bock auf mehr zu haben.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11
 
 
 
 

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