Sonntag, 9. Juni 2024

Die Wochenschau (03.06-09.06.2024): Dua Lipa, Sia, The Lemon Twigs, Willow und und und...

 
 
 
 
 
 
 
 
THE LEMON TWIGS
A Dream is All We Know
Captured Tracks

Spätestens seit dem mehr oder weniger überraschenden Nischenerfolg von Everything Harmony im vergangenen Jahr ist das New Yorker Zwillingsduo the Lemon Twigs irgendwie das neue große Ding für nostalgische Musiknerds, deren Lieblingskünstler*innen irgendwie immer die sind, die die klanglichen Ästhetiken der späten Sechziger und frühen Siebziger am wirkmächtigsten reproduzieren. Das wird dem Talent dieser beiden Jungs in meinen Augen zwar nicht wirklich gerecht, man kann aber durchaus sagen, dass sie auf diese Weise die bestmögliche Zielgruppe ansprechen. Denn wie wenige andere Bands kriegen sie es hin, das kompositorische Gefühl der großen Pop-Vergangenheit anzuzapfen und in stimmige eigene Songs umzuarbeiten. Auf früheren Alben arbeiteten sie sich damit stets irgendwo zwischen Folk Revival und britischem Glamrock ab und schufen dabei fast immer ein wohlig-warmes Nostalgiegefühl, das auch technisch brilliant und authentisch ausgeführt war. A Dream is All We Know ist nun inzwischen ihre vierte LP in dieser Form und zielt ganz unverhohlen auf die ganz großen Namen ab: Lennon und McCartney, Brian Jones und Paul Simon sind Künstler, die dieses Album nicht nur irgendwie inspirieren, sondern nach denen die Twigs nicht zuletzt auch stimmlich klingen. Und wo das alles kompositorisch furchtbar toll ist und man nicht oft genug sagen kann, was für ein Gespür die Band für diesen musikalischen Vibe hat, ist A Dream is All We Know auch nicht ihr erstes Album, bei dem ich ein sehr bestimmtes Problem feststelle: Nicht selten fehlt ihren Songs zu einem gewissen grad eine eigene Persönlichkeit. Auch ich merke das nicht immer sofort, weil die beiden sehr gut darin sind, die emotionalen Kompositionstechniken zu emulieren, die die Klassiker von damals so toll machte, gefühlt sind die Emotionen dieser Songs aber eher die ihrer Vorbilder als tatsächlich ihre eigenen. Das reicht am Ende immer noch dafür, dass A Dream is All We Know mal wieder ein mehr als akzeptables Gesamtkunstwerk ist, das man für viele seiner Eigenschaften bewundern kann und sollte, in mir löst diese Band aber nicht die gleiche Begeisterung aus wie bei vielen anderen zurzeit. Und gemessen an meiner bisherigen Erfahrung mit ihnen wird das wohl auch so bald nicht mehr passieren.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11





KAMASI WASHINGTON
Fearless Movement
Young

Die letzten fünf Jahre über hat Kamasi Washington das gemacht, was er schon vor seinem Durchbruch 2015 mit the Epic am besten konnte: Musik mit Anderen und für Andere machen: 2020 komponierte er den Soundtrack für die Netflix-Serie Becoming, im gleichen Jahr war er Teil des Dinner Party-Kollektivs mit Robert Glasper, Terrence Martin und 9th Wonder. Fearless Movement ist nun sein erstes richtiges Soloalbum seit 2018 und für seine Verhältnisse fast schon bescheiden. Wo er früher gerne mal zwei bis drei Stunden mit neuem Material füllte, beschränkt sich diese Platte auf konservative 86 Minuten, was aber nicht heißt, dass er in diese nicht trotzdem jede Menge stilistische Hakenschläge packt. Nicht nur ist sein raumgreifender Jazz Fusion-Stil wie üblich episch unterbaut und zieht alle Register der opulenten Orchestrierung, es gibt auch erneut zahlreiche spannende Crossover-Momente zu hören. Insbesondere die Gastperformances der beiden Rapper und Taj Austin und D Smoke sind echte Higucker des Albums und insbesondere letztere im Song Get Lit hervorzuheben, da dort außerdem Funk-Legende George Clinton seinen Senf dazugibt und der Platte eine zusätzliche Funk-Schlagseite verpasst. Auch André 3000 ist auf Fearless Movement zu hören, allerdings nicht als Rapper, sondern wie schon auf seinem jüngsten Solo-Debüt als Flötist, wo er im Gegensatz zu besagtem Album auch das richtige Setting für sein Instrument findet und den Song tatsächlich gewinnbringend abrundet. Wie schon zuvor bei Kamasi Washington hat dann auch diese Platte ob der vielen Ideen und Einflüsse ein wenig das Problem der fehleden Kohärenz, ein bisschen wird dem aber dadurch entgegen gewirkt, dass die Songs an sich ziemlich lang sind und als solche zumindest in sich stimmig. Und obwohl das für mich nach wie vor ein Punkt ist, an dem die Arbeit mich etwas unerfüllt zurücklässt, bin ich doch ganz klar der Meinung, dass er hier mal wieder ein Album gemacht hat, das als wirkungsvoller Aha-Moment in der aktuellen Jazz-Landschaft dienen kann und ihn als einen Musiker zementiert, der immer wieder frischen Wind in die verstaubte Szene bringt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11






DUA LIPA
Radical Optimism
Warner

Ich kann über die neue Platte von Dua Lipa keine Sterbenswörtchen verlieren, ohne vorher noch einmal ganz ausdrücklich betont zu haben, dass ich Future Nostalgia, den Vorgänger der Britin von 2020, für eines der ultimativen Pop-Alben der letzten fünf bis zehn Jahre halte. Eine Platte, die zum Bersten voll war mit zeitlosen Hits, denen ich ein langes Leben in den Radiowellen der Gegenwart und Zukunft prophezeihe die und ganz nebenbei auch noch eine bewundernswerte technische Finesse und Liebe zum Detail an den Tag legte. Klar, dass es für mich da schwierig werden würde, einem Nachfolger wie diesem unvoreingenommen zu begegnen und keine unrealistisch großen Hoffnungen zu haben. Wobei ich zuletzt ehrlich gesagt eher ein bisschen die Erwartung hatte, dass Dua Lipa es ganz schön verkacken könnte. Die ersten Singles vor einigen Monaten waren in meinen Augen eher so lala und gingen nicht wirklich neue Wege, außerdem war das unmittelbare Echo bei Release von Radical Optimism doch eher verhalten. Dem entgegen muss ich nun sagen, dass sie sich hier insgesamt wacker schlägt. Sicher, die neue Platte ist keine Sensation auf dem Level des Vorgängers und es gibt ein paar Songs wie French Exit oder Whatcha Doing, die keine unmittelbaren Banger sind, unterm Strich ist das Ergebnis aber immer noch ein durchweg fetziges Pop-Album. Die großen Highlights wie Training Season, Maria und vor allem das geniale Falling Forever sind diesmal vereinzelter, aber in sich nicht weniger catchy und gut gemacht als Lipas beste Sachen von davor. Und abgesehen davon gibt es mit dem quasi durchgängigen Narrativ über Akzeptanz, das Überwinden von Eifersucht und - ganz im Sinne des Titels - grundlegendem Optimismus einen starken roten Faden, den in dieser Form bisher noch kein Album der Britin hatte. Weshalb Radical Optimism für mich den Status von Dua Lipa als unterschätzte Pop-Diva auf Weltniveau eher stabilisiert als bröckeln lässt und ich hiermit eher noch ein bisschen mehr zu ihrem Fan werde.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





WILLOW
Empathogen
Thee Six Zero

Ausgerechnet mit zwei bratzigen Pop Punk-Alben schaffte Willow Smith es in den vergangenen drei Jahren, mich auf ihre Seite zu ziehen und schuf mit diesen in meinen Augen vor allem eine solide Basis, um ihre zuvor stets noch etwas undefinierte Karriere als Musikerin in geordnete Bahnen zu leiten. Schon da hätte ich aber schon wissen sollen, dass jemand wie sie es nicht lange auf einem so vordefinierten musikalischen Pfad aushält und es über kurz oder lang absehbar war, dass sie musikalisch wieder in völlig andere Bereiche ausbricht. Und obwohl ein Teil von mir diese Tendenz irgendwie bedauernswert findet und gerne noch ein paar rotzige Punkplatten aus ihrer Feder gehört hätte, zeigt sie auf Empathogen doch auch eine neue Variante ihres Wegs als Künstlerin, mit der ich mich versöhnen kann. Denn immerhin bleibt sie hier stilistisch innerhalb der 12 Songs halbwegs auf der Spur und nimmt sich eines weiteren Sounds auf eine Weise an, die angebrachte Hingabe zeigt. Marschrichtung ist diesmal eine Art smoother Neo-Soul mit mindestens einem Bein im modernen Jazz, wobei letztere Anleihen mich seltsamerweise am ehesten an die Musik von Bands wie the Smile erinnern. Unerwartet kommt in dieser Hinsicht auch ein Feature von St. Vincent, selbst das wirkt aber nicht total out of place und zeigt vielleicht das größte Talent von Willow im Moment: Sich chamäleonhaft Stile und Ästhetiken anzueignen und dabei trotzdem so klingen, als würde sie diese schon ewig erforschen. Und obwohl Empathogen für mich nicht das nächste große Highlight ihres Katalogs werden wird, ist es doch trotzdem alles andere als enttäuschend.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





JOHN CARPENTER, CODY CARPENTER & DANIEL DAVIES
Lost Themes IV: Noir
Sacred Bones

 
 
 
Die letzten Jahre über haben verschiedene Remakes und Sequels von Horror-Klassikern aus den Achtzigern, für die John Carpenter schon damals die Scores machte, dem Altmeister wieder einiges an Auftragsarbeit eingebracht, Zeit für eine weitere Lost Themes-Episode hat er aber trotzdem gefunden. Auch die fällt wie schon ihr Vorgänger von 2021 verhältnismäßig rockig aus und erinnert so fast an Bands wie Maserati, Mogwai oder Zombi, die Carpenters Synth-Stilistiken aus den Achtzigern ja ihrerseits erst später in ursprünglich gitarrenlastige Klangkonzepte einfügten. Und obwohl auch diese Platte wieder durchweg instrumental gehalten ist und grundlegend nach Vintage-Kino und obskurem Gruselkram klingt, nutzt sie ihre Ungebundenheit dadurch, dass sie letztlich wahrscheinlich nicht gut als Score funktionieren würde, sondern strukturell eher etwas von Postrock hat. Für mich persönlich ist sie nicht zuletzt dadurch die erste Lost Themes-Platte, die mich wirklich angesprochen hat und mehr ist als eine gute Resterampe für alles Material, das selbst in der zwanzigsten Halloween-Neuverfilmung keinen Platz findet.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





SIA
Reasonable Woman
Monkey Puzzle | Atlantic

Es ist erstaunlich, wie Sia seit Jahren den Weg einer theoretisch sehr vielseitigen und ideenreichen Künstlerin geht, die musikalisch wirklich versucht, über den eigenen Tellerrand zu schauen, und dabei am Ende trotzdem immer das gleiche Ergebnis herausbekommt. Das spricht für ihren Charakter als Performerin, die insbesondere gesanglich absolut unverwechselbar ist, macht ihre Platten aber auch ziemlich gleichförmig. Und nach einer Supergroup mit Diplo und Labirinth, einem Weihnachtsalbum und einem eigenen Musical ist das bei ihrer ersten "normalen" LP seit 2016 leider wieder der Fall. Mit Little Wing findet sich darauf ein weiterer starker Quotenhit, der ihre Kernkompetenzen betont und mit Chaka Khan, Kylie Minogue, Tierra Whack und Paris Hilton (!) sind hier zahlreiche illustre Gastmusikerinnen vertreten, ambitioniert zeigt sich Sia also weiterhin. Bringt am Ende aber alles nichts, weil die meisten der Songs hier nichts relevantes zu ihrem künstlerischen Portfolio hinzufügen und eher ein bisschen farbloser und abgeschwächter kriegen als das meiste zuvor.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11





PETE PHILLY & PERQUISITE
Eon
Unexpected Records

 
 
 
Keine Ahnung woher dieses Comeback gerade eigentlich kommt, aber ich bin angenehm überrascht davon. Das holländische Hiphop-Duo Pete Philly und Perquisite, deren letztes gemeinsames Album 2007 erschien und von denen es auch solo kaum Material aus den vergangenen zehn Jahren gibt, hat sich hier quasi aus dem Nichts entschieden, eine neue LP aufzunehmen, die mich ein bisschen in meine eigene Vergangenheit als Rap-Hörer zurückwirft. Das letzte Soloalbum von Pete Philly aus dem Jahr 2011 hatte ich seinerzeit gehört und mochte es sehr für seine gediegene, unangestrengte Art und die Performance des Rappers, die fast schon etwas von Indiefolk hatte. Hier findet man dieses Songwriting erneut und erstaunlicherweise funktioniert es über weite Strecken auch noch richtig gut. Dabei hilft es ungemein, dass die beiden in Sachen Hooks einiges vorlegen und sich nicht davor scheuen, ernsthaft melodisch zu werden. Und klar ist das dann für manche Hiphop-Hardliner vielleicht zu soft und europäisch, wer aber Sachen wie Homeboy Sandman oder Macklemore mag, für den*die könnte das hier auch eine Empfehlung sein.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11






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