Freitag, 14. Juni 2024

Review: I'm Gay (I'm Not Happy)


 

PLACEBO
Without You I'm Nothing
Elevator | Virgin
1998














[ angsty | progressiv | fett ]

Es ist eigentlich schon lange überfällig, dass ich im Rahmen des Pride Month mal über ein Album von Placebo schreibe. Nicht nur deswegen, weil ich hier generell zu wenig über diese Gruppe schreibe, die immerhin eine langjährige Lieblingsband von mir ist und am ehesten für das verantwortlich war, was man bei mir eine pubertäre Emo-Phase nennen könnte. Vor allem sind sie vielleicht einer der wichtigsten queeren Identifikations-Acts der alternativen Subkultur in den Neunzigern und Zwotausendern und als solches an einem ganz bestimmten popkulturellen Sweet Spot, den in dieser Form wenige andere Künstler*innen besetzen. Einerseits entstammen sie der queeren Szene in London, die zu Beginn der Neunziger sehr aktiv war, setzten dem lebensbejaenden Vogue-Geballer, das zu dieser Zeit dort existierte, aber von Beginn an die Depression und den Angstschweiß der Grunge-Welle entgegen, die gerade aus Amerika heranschwappte, und schufen damit ganz wesentlich einen neuen Raum für queere Ausdrucksformen mit. Raum für diejenigen queeren Kids, denen Madonna, George Michael und die Pet Shop Boys zu glatt waren, und die in ihrem Queersein eben auch über negative Gefühle hören und sprechen wollten. Bereits in den Neunzigern sprachen Placebo in einer Weise über mentale Gesundheit und die Verworrenheit des Daseins junger Außenseiter*innen, die andere erst Mitte der Zwotausendzehner kultivierten und gingen damit auf Abstand zu den hedonistischen Poppers-Partysongs, die damals den Großteil der queeren Community beschallten. Das macht sie aus heutiger Sicht zu einer etwas paradoxen Band, die zwar einerseits ganz klar ein Produkt der Neunziger ist und bis heute auch sehr danach klingt, die den Style damaliger Rock-Trends aber auf eine denkbar progressive Weise vertritt und transzendiert. Wobei man auch darüber reden muss, dass sie für einen Act ihres Schlags mit androgynem, offen bisexuellen Frontmann und Texten über queeren Sex, Drogen und Depressionen ziemlich früh extrem erfolgreich waren. Klar, einen Teil davon kann man auf die Popularität von Grunge zurückführen, der ja jede Menge seltsame Künstler*innen in den Mainstream beförderte, erstens waren das aber meistens trotzdem heterosexuelle Männerbands, zweitens war der Zug im Jahr 1996, als Placebo ihr erstes Album veröffentlichten, eigentlich schon fast wieder abgefahren. Ganz zu schweigen von 1998, als mit Without You I'm Nothing ihr eigentlicher Durchbruch erschien. Sprungbrett ihres Erfolgs war dabei die der Band Beteiligung am Soundtrack zum Kinohit Eiskalte Engel, an den man sich heute aus gutem Grund hauptsächlich der Musik wegen erinnert (die neben Placebo unter anderem von the Verve, Fatboy Slim, Blur, Skunk Anansie, Aimee Mann und Faithless kommt) und dessen erste Szene direkt mit dem grantigen Every You, Every Me einsteigt. Es ist der bestmögliche Track, um das Konzept dieser Band für die Laufkundschaft kurz und knackig zu pitchen: hookig, rockig, irgendwie angsty und mit einem unschlagbaren Gitarrenriff an der Front. Sehr sehr lange war Every You, Every Me deshalb auch mein absoluter Lieblingssong von Placebo und dass er das nicht mehr ist, liegt wahrscheinlich nur daran, dass ich ihn inzwischen zu oft gehört habe. Und wo die meisten späteren Platten der Briten ein bisschen das Problem hatten, in den Deep Cuts doch sehr beliebig zu werden und komische Experimente anzustellen, ist Without You I'm Nothing zumindest zu gut zwei Dritteln ein Album der absolut großartigen Momente: Der Opener Pure Morning ist in meinen Augen inzwischen der bessere Hitsong der Platte, Brick Shithouse holt nochmal die schrille und aufgekratzte Energie des Debüts zurück, der Titelsong ist eine der herrlichsten Balladen der Band, Scared of Girls haut nach dem balladigen Schlussteil nochmal richtig auf die Kacke und selbst der achtminütige instrumentale Hidden Track Evil Dildo ist über die Jahre zu einem echten Fanfavoriten geworden. Zugegeben, einige der subtileren Songs wie My Sweet Prince und Burger Queen hätte es in meinen Augen nicht gebraucht und für seine an sich okayen 50 Minuten Spielzeit (eine knappe Stunde, wenn man Evil Dildo mitzählt) fühlt sich das Album ziemlich voll an. So ein bisschen Füllmaterial ist aber wirklich nicht schlimm, wenn man bedenkt, wie großartig der ganze Rest gemacht ist. Nach dem noch sehr klumpigen und rabiaten Debüt bekommt der Sound von Placebo hier an vielen Stellen eine neue Ausgewogenheit, die ihn deutlich im Alternative Rock der großen Jungs verortet und die Produktion (obgleich der Grund dafür, dass sich das Album sehr voll anfühlt) ist durchweg der Wahnsinn. Insbesondere in Sachen Sound ist Without You I'm Nothing beispielhaft dafür, wie eine alternativ geprägte Band fett und ruhig auch ein bisschen kommerziell klingen kann, ohne dabei gleich jegliche Kante zu verlieren. Eine Herangehensweise, die in späteren Jahren auch Leuten wie Muse und (würg) Marylin Manson gut zu Gesicht stand und die für mich auch dem häufig geäußerten Take entgegen steht, Placebo seien keine Albumband. Sicher, die meisten späteren Platten von ihnen waren eher durchwachsen und am besten kann man sich ihnen auch heute noch über die vielen darüber verteilten Radiohits annähern, hier haben sie aber einmal in ihrer Laufbahn ein echtes Meisterwerk geschrieben.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢 10/11

Persönliche Höhepunkte
Pure Morning | Brick Shithouse | You Don't Care About Us | Without You I'm Nothing | the Crawl | Every You Every Me | Scared of Girls | Evil Dildo

Nicht mein Fall
My Sweet Prince


Hat was von
Muse
Origin of Symmetry

Skunk Anansie
Wonderlustre


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