Sonntag, 30. Oktober 2022

Kein Wunder

Alvvays - Blue Rev
ALVVAYS
Blue Rev
Transgressive
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ bittersüß | sommerlich | melancholisch ]

Es gibt sicherlich kein anderes Album in dieser Saison, das in Sachen persönlicher Erwartungshalten bei mir so hohe Hürden zu überwinden hatte wie Blue Rev. Und dass dem so werden würde, war bereits ab dem Zeitpunkt klar, ab dem selbiges vor ein paar Monaten angekündigt wurde. Schuld an der Misere sind am Ende aber ausschließlich Alvvays selbst, denn immerhin waren sie es ja, die es erst für angebracht hielten, 2014 und 2017 in direkter Abfolge zwei der großartigsten Alben der gesamten Zwotausendzehner zu droppen und anschließend fünf Jahre in der Versenkung zu verschwinden. Nicht nur hatten die Welt also mit zwei quasi zur Perfektion vollendeten Janglepop-Platten zurückgelassen, sondern das auch noch für eine ziemlich lange Zeit. Was heißt, dass es für den lang ersehnten Moment ihres dritten Albums nicht nur ein starkes musikalisches Signal von ihnen brauchte, sondern im gleichen Zug auch eine Rechtfertigung für die lange Abwesenheit, die sich natürlich am besten in qualitativ hochwertigen Songs äußerte. Wobei es für mich schon im Vorfeld völlig illusorisch erschien, dass Alvvays die Sensation der ersten beiden Longplayer bei so einer wahnsinnigen Erwartungshaltung nochmal identisch wiederholen könnten. Ganz zu schweigen davon, dass das hier ihr inzwischen drittes Album werden sollte und die Welt des sommerlich-melancholischen Janglepop, den sie bis jetzt spielten, langsam hinreichend erforscht schien. Selbst ein durchweg zufriedenstellendes Stück Musik könnte in meinen Augen somit zur herben Enttäuschung werden, weshalb ich gleich von vornherein abstritt, dass es überhaupt möglich war. Ein gutes halbes Jahr später ist die LP nun da (seit Release ist ja nun mittlerweile auch schon seit fast ein Monat vergangen) und ich muss zugeben, dass ich mit all der Schwarzmalerei - obwohl viele meiner Vorhersagen grundsätzlich zutreffend sind - vielleicht ein bisschen zu weit gegangen bin. Denn dass Alvvays hier ein insgesamt nicht ganz so starkes Album machen bedeutet eben nicht, dass sie mich damit zwangsläufig enttäuschen. Viel eher ist Blue Rev fünf Jahre nach Antisocialites und acht Jahre nach dem Debüt die LP, die nicht mehr ganz so fantastisch abliefert, die aber trotzdem vor allem durch ihre starken Momente überzeugt, von denen sie immer noch mehr als genug hat. Und dass die Kanadier stilistisch keinen Umbruch anstreben und stattdessen weiter ihren Stiefel spielen, ist am Ende eher beruhigend als ernüchternd. Zumal es ihnen weiterhin gelingt (und daran hätte ich eigentlich nie zweifeln dürfen) noch mal ein paar kolossale Einzeltracks aus diesem Konzept herauszuwringen. So schaffen sie mit Easy On Your Own? erneut eine geniale Powerballade, die gleich zu Anfang der Platte mächtig kickt, setzen mit Pomeranian Spinster nochmal die rabiatere Energie eines Hey oder Lollipop vom letzten Album fort und zeigen in Belinda Says und Bored in Bristol sehr effektiv, dass auch der Umgang mit Synths und Streichern nach wie vor hinhaut. Und an nicht wenigen Stellen ist sie dann auch definitiv wieder da, die einzigartige Pop-Magie der beiden letzten Platten, die vor allem dank Molly Rankin als Sängerin und einer brillianten Produktionsleistung von Shawn Everett ikonisch kommuniziert wird. Dass es dabei auch erstmals Füllermomente und Längen im Songwriting von Alvvays gibt, lässt sich aber dann auch genausowenig abstreiten und ist eine Sache, die zwar weniger schlimm ist als gedacht, die aber trotzdem angesprochen werden sollte. So ist beispielsweise ein Großteil des Mittelsektors von Blue Rev, etwa von Many Mirrors bis Tile by Tile, schon ziemlich ereignislos und braucht erst das fetzige Pomeranian Spinster, um wieder aus seiner Trance aufzuwachen und mit Pharmacist am Anfang und Fourth Figure am Ende sind leider auch die beiden wichtigsten Angelpunkte der LP irgendwie mittelprächtig und undefiniert geworden. Zumindest dann, wenn man ihren Impact fürs Gesamtkonzept mit einem In Undertow, Adult Diversion oder Red Planet vergleicht. Wo die letzten beiden Alben also quasi von vorn bis hinten mit Highlights vollgestopft waren, finden sie hier eher vereinzelt statt und lassen zwischendurch auch mal Platz für ein paar echte Deep Cuts, die sicherlich eher keine Fanfavoriten werden. Aber allein dass es Alvvays zwei Longplayer lang gebraucht hat, um erstmal diesen Normalsterblichen Zustand zu erreichen und "nur" eine gute Leistung abzuliefern, spricht in meinen Augen nochmal für die Großartigkeit ihrer ersten zwei Platten und das kleine Pop-Wunder, das sie damit bei mir ausgelöst haben. Und dass sie hier qualitativ ein paar Gänge zurückschalten, heißt ja auch lange nicht, dass es von jetzt an vorbei ist mit den Meisterwerken. Denn wenn diese Band eines im Griff hat, dann sind es ihre Kernkompetenzen, nach denen sie auch hier eisern agieren. Der Rest sind meiner Ansicht nach Details, und die sind dann eben die Sahnehaube obendrauf. Und dass es die diesmal nicht gibt, verdirbt mir persönlich nicht die Laune an einem durchweg soliden Eisbecher, den sie hier ein weiteres Mal wunderbar zusammenstellen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11


Persönliche Höhepunkte
Easy On Your Own? | After the Earthquake | Tom Verlaine | Pressed | Pomerianian Spinster | Belinda Says | Bored in Bristol | Lottery Noises
 
Nicht mein Fall
-

Hat was von
the Beths
Jump Rope Gazers

Beach House
Depression Cherry


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