Mittwoch, 2. November 2022

Europa Endzeit

Die Nerven - Die Nerven
DIE NERVEN
Die Nerven
Glitterhouse
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ sophisticated | sozialkritisch | dynamisch ]

Obwohl ich durchaus zugeben muss, dass sie mir in der jüngeren Vergangenheit ab und zu gefehlt haben, ist es eigentlich kaum zu glauben, dass das letzte Album der Nerven nun auch schon wieder ganze vier Jahre her ist. Schon alleine deshalb, weil man in der Zeit seit Fake von 2018 zum ersten Mal so richtig den Impact merkte, den diese Band mittlerweile in der deutschen Musiklandschaft hinterlassen hat. Vor allem natürlich in Form der Persona Max Rieger, der nach seinem Stint als Producer für ein paar Platten artverwandter Künstler*innen mittlerweile zu sowas wie einem Starproduzenten avanciert ist, aber auch in Form verschiedener Nebenprojekte anderer Nerven-Mitglieder sowie zahlreicher Acts und Musikfans, die als Fans der Gruppe nach der letzten LP noch dazugekommen sind. Nachdem Fake also schon für die Band selbst zuletzt ein mittelgroßer Befreiungsschlag war, diente die kleine Pause danach umso mehr dazu, den individuellen Vorlieben der einzelnen Mitglieder nochmal ausführlich Luft zu machen. Dass das selbstbetitelte sechste Album der Stuttgarter nun trotzdem wieder ein relativ konservatives Postpunk-Werkstück mit klassischen stilistischen Parametern geworden ist, kann man da als Überraschung sehen, nach all den Exkursen zwischendrin wirkt es aber auch eher wieder wie eine Rückbesinnung auf bewährte Kernkompetenzen. Wobei man auch diesmal trotzdem sagen kann, dass die Nerven sich auf gewissen Ebenen deutlich weiterentwickelt haben. Primär fällt das technisch auf, wo Moses Schneider als ausführender Produzent der Band einen monumentalen Edelpop-Sound verpasst (inklusive dekandenten Streichern in Ein Influencer weint sich in den Schlaf und 180°), nicht zuletzt aber auch inhaltlich, wo Riegers Texte erstmals seit gefühlt dem Debüt einer nach innen gekehrten Betroffenheitslyrik entweichen und ernsthaft sozialkritisch werden können. Viel geht es da um den Verfallsprozess eines idyllischen Konzepts von westlicher Überlegenheit, der am deutlichsten im Opener Europa kommuniziert wird, aber auch um klassische Kapitalismus- und Liberalismuskritik in 15 Sekunden oder Alles reguliert sich selbst oder um Klimawandel, Krieg und generelle Zukunftsängste. Von allen bisherigen Alben der Stuttgarter ist dieses hier dabei definitiv am meisten ein zeitgenössisches, das dem kleinen Rockstar-Status der Gruppe auch sehr gerecht wird. Denn auch wenn Riegers Texte nach wie vor abstrakt und verkunstet sein können, eine Botschaft haben sie doch auf jeden Fall. Weshalb ich mir auch durchaus vorstellen kann, dass es vor allem neue Fans sein werden, die davon jede Menge haben. Und auch ich als jemand, der die Band schon seit fast zehn Jahren hört, freue mich grundsätzlich an ihrer erneuten inhaltlichen Dichte. Was mir an vielen Stellen jedoch fehlt und was vielleicht nur deshalb ein Problem ist, weil ich eben ihre alten Sachen kenne, ist ein gewisser musikalischer Biss. Denn mit der cleaneren Produktion und den ganzen Instrumentalen Sperenzchen geht hier an einigen Punkten auch eine klangliche Zahnlosigkeit einher, die ich nach Fake zwar absehbar empfinde, aber trotzdem irgendwie als Verlust. Erstmals gibt es hier eben nicht die voluminösen Postpunk-Kaskaden und dreckigen Punk-Momente, die die Nerven trotz aller Gefälligkeit lange noch hatten und die in meinen Augen ihre größte Stärke waren. Stattdessen ist vieles hier von der Idee her stark, in der Umsetzung aber nicht ganz so fett und bombastisch, wie ich es mir gewünscht hätte. Gerade auch dann, wenn man bedenkt, wer hier hinter den Reglern sitzt und wie wichtig diesmal die Aussagen vieler Songs sind. Ein enttäuschendes oder schwaches Album machen die Nerven deswegen nicht gleich, nur habe ich das erste Mal ein bisschen das Gefühl, dass der Erfolg ihnen vielleicht doch nicht so gut tut und sie mal wieder etwas mehr ordinären Schrammelpunk wagen sollten. Denn auch wenn sie vielleicht diesen Weg für sich sehen, Tocotronic machen ihren Job aktuell noch zu gut, um jetzt schon eine Altersvertretung zu brauchen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11


Persönliche Höhepunkte
Europa | Ich sterbe jeden Tag in Deutschland | 15 Sekunden | Ein Tag
 
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-

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