Sonntag, 16. Juni 2024

Die Wochenschau (10.06.-16.06.2024): Ghostface Killah, Gunna, Kings of Leon, Incubus und und und...


 
 
 
 
 
 
KINGS OF LEON
Can We Please Have Fun
Capitol

 
 
 
 
 
 
 
 
Ich hatte mich nach dem Release der tollen Leadsingle Mustang ja schon gefreut, dass es für das neue Album der Kings of Leon nach Jahren, in denen ich mich fast ein bisschen wie ihr letzter Fan auf Erden fühlte, mal wieder ein etwas größeres Medienecho um diese Band gab, das in meinen Augen auch absolut gerechtfertigt war. Der Song hatte eine rauhbeinige Energie, die ihre Musik schon lange nicht mehr hatte und außerdem eine erfrischende Schrägheit, die man selbst in der Frühphase der Band nur ganz vereinzelt finden konnte. Meine Erwartungen für Can We Please Have Fun gingen also schon irgendwie in die Richtung eines abenteuerlichen neuen Albums, das nach den zwar tollen, aber auch sehr betulichen letzten zwei Platten durchaus cool gewesen wäre. Leider führte Mustang aber ein bisschen auf die falsche Fährte, denn nicht nur bleibt das Songwriting der Kings of Leon auf den meisten Songs hier weiter verhalten, Can We Please Have Fun ist auch das erste der Band, das ich wirklich als ein bisschen langweilig bezeichnen würde. Nachdem Sachen wie Walls oder der Vorgänger When You See Yourself von 2021 subtile und nachdenkliche LPs waren, die auf den ersten Blick etwas öde waren, auf den zweiten aber vier gereifte und selbstsichere Musiker zeigten, ist hier nun tatsächlich etwas die Luft raus. Das Ergebnis ist ein Album, das größtenteils aus Füllertracks besteht und in einer bitteren Ironie die titelgebende Frage beantwortet: Nein, anscheinend nicht hier.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠 06/11





A.G. COOK
Britpop
New Alias

Parallel zur Abwicklung seines alten und stilprägenden Labels PC Music veröffentlicht A.G. Cook 2024 auch ein weiteres Soloalbum, das technisch gesehen und je nach zählweise sein drittes beziehungsweise fünftes ist. Klanglich und strukturell ist es aber ganz eindeutig der ideelle Nachfolger des 2020 veröffentlichten 7G, das eher eine Art umfassendes Werkschau-Projekt mit Ideen und Skizzen war, das als siebenteiliger Song-Zyklus erschien. Im Vergleich zu dessen knappen drei Stunden Spielzeit ist Britpop mit ganz knapp über 100 Minuten aber nicht nur in seinen Dimensionen bekömmlicher, sondern in meinen Augen auch das mit Abstand bessere Album. Denn obwohl der Charakter einer Ideensammlung auch diesem Release anhaftet und man sich ob der Staffelung der Tracks ein bisschen an frühe Platten von Aphex Twin erinnert fühlt, ist vieles hier deutlich runder und nicht so skizzenhaft wie zuvor oft. Gerade der Titelsong ist mit seiner Jingle-artigen Hook hätte als Interlude auch auf einer LP von Charli XCX Platz gefunden und Songs wie Pink Mask, Crescent Sun oder Heartache sind mehr Song als fast alles auf 7G. Ein bisschen indifferent bin ich noch gegenüber den gelegentlichen Akustikgitarren-Anflügen von Cook, die es hier wieder gibt, auch die sind aber maximal etwas füllerig und strapazieren im hinteren Teil der Platte, wenn man schon über eine Stunde Musik hinter sich hat, eher ein bisschen die Geduld, als wirklich zu nerven. Man muss also anerkennen, dass Britpop für die Art seiner Strukturierung und Komposition, mit der A.G. Cook es sich weiß Gott nicht leicht macht, das beste an Material herausholt. Und so sehr der Brite nach wie vor jemand ist, der dem Format Album gegenüber allergisch scheint, so sehr ist das hier sein bisher stärkstes Gesamtwerk als Solokünstler.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





GUNNA
One of Wun
Young Stoner Life

Die eine Sache, die ich an Gunna in den vergangenen paar Jahren am meisten mochte und die sich während dieser Zeit auch in einigen überraschend genialen Platten aus seiner Feder äußerte, war ja seine schamlose Campigkeit und die fehlende Scheu davor, sich vor der Rap-Community auch mal so richtig zum Obst zu machen. Sicher, viele fanden den Output von ihm während seiner gesamten Karriere auch eher albern, wenigstens fiel er damit aber auf. Und das in meinen Augen zumindest musikalisch häufiger positiv als negativ. Und nachdem es letztes Jahr anscheinend das dröge und ziemlich ungelenke A Gift & A Curse brauchte, um seine Gedanken über den unsäglichen Young Stoner Life-Prozess, bei dem er als Kronzeuge gegen das Label aussagte, aus dem System zu kriegen, hatte ich gehofft, dass er auf One of Wun verrichteter Erklärungsnot zu seinem üblichen Modus Operandi zurückkehrt. Und ein bisschen findet dieser hier tatsächlich statt und äußert sich zumindest in einigen wieder sehr unfreiwillig komischen Lines wie "Lion in the field, I ain't no mice" oder "suck the nut out the pee hole". Im Rahmen des grundsätzlich eher seriös anberaumten Sounds der Platte wirkt das aber oftmal eher dämlich als auf lustige Weise campy und verheddert sich mit gewichtigen Aussagen, die Gunna an manchen Ecken plötzlich machen will. Allem anschein nach hat der Denkprozess auf A Gift & A Curse ihm den Floh ins Ohr gesetzt, dass er jetzt reifere und intelligentere Musik machen sollte, was gleich aus mehreren Grunden eine ganz schön blöde Idee ist. Einerseits deshalb, weil er damit klangästhetisch im Einheitsbrei der soften Trap-Sounds untergeht, den er vorher immer so geschickt umschiffte, zweitens deshalb, weil er eine solche Tragweite - haben wir auf dem Vorgänger ja gesehen - lyrisch einfach nicht ownt und plump gesagt zu untalentiert als Texter ist, um diese Inhalte zu stämmen. One of Wun ist dabei zwar insgesamt okay-er als A Gift & A Curse und thematisch nicht ganz so heulsusig, schönreden kann man damit aber nichts. Gunna hat sein größtes Talent als Musiker und Performer hier bewusst an den Nagel gehängt und das merkt man ziemlich deutlich. Hoffentlich findet er irgendwann nochmal zurück dazu.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠 06/11






INCUBUS
Morning View XXIII
Virgin

In meiner ausführlichen Besprechung zur Originalversion von Morning View habe ich ja vor einigen Monaten schon dazu Stellung genommen, warum dieses Album für mich ein sehr besonderes ist und warum es wie bisher keine andere Platte dafür gesorgt hat, dass ich mich für nostalgische Rerecordings dieser Sorte interessiere. Eine kleine Weile später bin ich nun sehr froh zu verkünden, dass Morning View XXIII so ziemlich alle meine hohen Erwartungen erfüllt hat und für mich persönlich sogar noch ein klitzekleines Upgrade zum Original ist. So ist es schnell vergessen, dass Brandon Boyd gesanglich nicht mehr jede geschmetterte Note von 2001 mit so viel Nachdruck singt (obwohl seine Performance hier absolut stabil ist) und das Album öffnet einem die Ohren für die vielen kleinen Verbesserungen, die es hier und da vornimmt. In erster Linie fällt da der rundum durchgepustete Sound auf, der so viel klarer und organischer ist als auf dem Original und bei dem man so viel mehr Details hört. Nicht nur in den Instrumenten, sondern vor allem in Boyds Texten, die diesmal viel mehr im Mittelpunkt stehen. Ab und zu ändert die Band dann auch mal ein Riff, fügt Backing Vocals von Neu-Mitglied Nicole Row ein oder schreibt wie in Nice to Know You ein komplett neues Intro, bleibt dabei aber bei Details und fokussiert sich so eher auf die klanglichen Aspekte der Neuaufnahmen. Auch cool finde ich, dass es dazu dann eben nicht noch ein Add-On mit einem halben Dutzend Bonustracks gibt, sondern lediglich die 13 Originaltracks. Womit Morning View XXIII zwar auf jeden Fall eher Fanservice für wirklich eiserne Anhänger*innen ist, zu denen zähle ich mich aber mittlerweile durchaus dazu.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11





GHOSTFACE KILLAH
Set the Tone (Guns & Roses)
Mass Appeal

Nach fünf Jahren ohne richtiges Soloalbum und sogar fast einer ganzen Dekade ohne einem unter dem Namen Ghostface Killah fühlt sich Set the Tone nur deshalb nicht nach dem großen Comeback des New Yorkers an, weil irgendwie niemand darüber redet. Was schade ist, denn in meinen Augen macht der Rapper hier eine der besten Platten, die ich überhaupt je von ihm gehört habe und die zeigt, wie vielseitig er als Künstler ist. Zwar könnten einige die Querschläger in Richtung Dancehall (Champion Sound), Reggaetón (Shots) und vor allem R'n'B (quasi die komplette zweite Hälfte des Albums) einige seiner Oldschool-Fans abschrecken und auf jeden Fall ist Set the Tone eines seiner kommerziellsten Projekte, in meinen Augen verleiht er aber all diesen musikalischen Exkursen seinen eigenen Stempel, ohne sich dabei selbst zu sehr anzubiedern. Wer Ghostface einfach nur als guten Rapper und Erzähler schätzt, kommt hier definitiv auf seine Kosten und klassische Hiphop-Nostalgiemomente gibt es vor allem im ersten Drittel des Albums trotzdem mehr als genug. Das einzige was ich richtig dumm finde ist am Ende der Song No Face, der musikalisch und lyrisch zwar einer der besten der LP ist, dies aber vor allem einem Produktions- und Strophencredit von Kanye West verdankt, den man 2024 halt nicht mehr unproblematisch featuren kann. 

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11





KNOCKED LOOSE
You Won't Go Before You're Supposed To
Pure Noise Records

Schon seit Mitte der Zwotausendzehner gelten Knocked Loose für die Szene-Nerds als eine der erfrischenderen Bands im Bereich des modernen Metalcore und mit ihrem dritten Album You Won't Go Before You're Supposed To sieht es so aus, als hätten sie ihr bisheriges Maßstabswerk vorgelegt. Thematisch setzt sich die LP an vielen Stellen kritisch mit organisierter Religion auseinander und geht dabei emotional auch echt an die Substanz, musikalisch ist sie passend dazu voller proggiger Hakenschläge, messerscharfer Riff- und Schlagzeug-Gewitter und schneidenden Performances von Sänger Bryan Garris. Nicht zu verachten ist auch die Produktion von Drew Fulk, die aus allen diesen Elementen das Maximum an Lärm herausholt und trotzdem dafür sorgt, dass alles nicht zu monoton wird. Womit You Won't Go in vielen Punkten ein Metalcore-Album ist, dem selbst Skeptiker*innen dieser Stilrichtung einiges abgewinnen könnten und das der dem Genre oft vorgeworfenen Stumpfheit eine ernsthaft intelligente Platte mit großen Ambitionen entgegensetzt. Vorausgesetzt man hat kein Problem damit, wenn es lauter wird.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11




Freitag, 14. Juni 2024

Review: I'm Gay (I'm Not Happy)


 

PLACEBO
Without You I'm Nothing
Elevator | Virgin
1998














[ angsty | progressiv | fett ]

Es ist eigentlich schon lange überfällig, dass ich im Rahmen des Pride Month mal über ein Album von Placebo schreibe. Nicht nur deswegen, weil ich hier generell zu wenig über diese Gruppe schreibe, die immerhin eine langjährige Lieblingsband von mir ist und am ehesten für das verantwortlich war, was man bei mir eine pubertäre Emo-Phase nennen könnte. Vor allem sind sie vielleicht einer der wichtigsten queeren Identifikations-Acts der alternativen Subkultur in den Neunzigern und Zwotausendern und als solches an einem ganz bestimmten popkulturellen Sweet Spot, den in dieser Form wenige andere Künstler*innen besetzen. Einerseits entstammen sie der queeren Szene in London, die zu Beginn der Neunziger sehr aktiv war, setzten dem lebensbejaenden Vogue-Geballer, das zu dieser Zeit dort existierte, aber von Beginn an die Depression und den Angstschweiß der Grunge-Welle entgegen, die gerade aus Amerika heranschwappte, und schufen damit ganz wesentlich einen neuen Raum für queere Ausdrucksformen mit. Raum für diejenigen queeren Kids, denen Madonna, George Michael und die Pet Shop Boys zu glatt waren, und die in ihrem Queersein eben auch über negative Gefühle hören und sprechen wollten. Bereits in den Neunzigern sprachen Placebo in einer Weise über mentale Gesundheit und die Verworrenheit des Daseins junger Außenseiter*innen, die andere erst Mitte der Zwotausendzehner kultivierten und gingen damit auf Abstand zu den hedonistischen Poppers-Partysongs, die damals den Großteil der queeren Community beschallten. Das macht sie aus heutiger Sicht zu einer etwas paradoxen Band, die zwar einerseits ganz klar ein Produkt der Neunziger ist und bis heute auch sehr danach klingt, die den Style damaliger Rock-Trends aber auf eine denkbar progressive Weise vertritt und transzendiert. Wobei man auch darüber reden muss, dass sie für einen Act ihres Schlags mit androgynem, offen bisexuellen Frontmann und Texten über queeren Sex, Drogen und Depressionen ziemlich früh extrem erfolgreich waren. Klar, einen Teil davon kann man auf die Popularität von Grunge zurückführen, der ja jede Menge seltsame Künstler*innen in den Mainstream beförderte, erstens waren das aber meistens trotzdem heterosexuelle Männerbands, zweitens war der Zug im Jahr 1996, als Placebo ihr erstes Album veröffentlichten, eigentlich schon fast wieder abgefahren. Ganz zu schweigen von 1998, als mit Without You I'm Nothing ihr eigentlicher Durchbruch erschien. Sprungbrett ihres Erfolgs war dabei die der Band Beteiligung am Soundtrack zum Kinohit Eiskalte Engel, an den man sich heute aus gutem Grund hauptsächlich der Musik wegen erinnert (die neben Placebo unter anderem von the Verve, Fatboy Slim, Blur, Skunk Anansie, Aimee Mann und Faithless kommt) und dessen erste Szene direkt mit dem grantigen Every You, Every Me einsteigt. Es ist der bestmögliche Track, um das Konzept dieser Band für die Laufkundschaft kurz und knackig zu pitchen: hookig, rockig, irgendwie angsty und mit einem unschlagbaren Gitarrenriff an der Front. Sehr sehr lange war Every You, Every Me deshalb auch mein absoluter Lieblingssong von Placebo und dass er das nicht mehr ist, liegt wahrscheinlich nur daran, dass ich ihn inzwischen zu oft gehört habe. Und wo die meisten späteren Platten der Briten ein bisschen das Problem hatten, in den Deep Cuts doch sehr beliebig zu werden und komische Experimente anzustellen, ist Without You I'm Nothing zumindest zu gut zwei Dritteln ein Album der absolut großartigen Momente: Der Opener Pure Morning ist in meinen Augen inzwischen der bessere Hitsong der Platte, Brick Shithouse holt nochmal die schrille und aufgekratzte Energie des Debüts zurück, der Titelsong ist eine der herrlichsten Balladen der Band, Scared of Girls haut nach dem balladigen Schlussteil nochmal richtig auf die Kacke und selbst der achtminütige instrumentale Hidden Track Evil Dildo ist über die Jahre zu einem echten Fanfavoriten geworden. Zugegeben, einige der subtileren Songs wie My Sweet Prince und Burger Queen hätte es in meinen Augen nicht gebraucht und für seine an sich okayen 50 Minuten Spielzeit (eine knappe Stunde, wenn man Evil Dildo mitzählt) fühlt sich das Album ziemlich voll an. So ein bisschen Füllmaterial ist aber wirklich nicht schlimm, wenn man bedenkt, wie großartig der ganze Rest gemacht ist. Nach dem noch sehr klumpigen und rabiaten Debüt bekommt der Sound von Placebo hier an vielen Stellen eine neue Ausgewogenheit, die ihn deutlich im Alternative Rock der großen Jungs verortet und die Produktion (obgleich der Grund dafür, dass sich das Album sehr voll anfühlt) ist durchweg der Wahnsinn. Insbesondere in Sachen Sound ist Without You I'm Nothing beispielhaft dafür, wie eine alternativ geprägte Band fett und ruhig auch ein bisschen kommerziell klingen kann, ohne dabei gleich jegliche Kante zu verlieren. Eine Herangehensweise, die in späteren Jahren auch Leuten wie Muse und (würg) Marylin Manson gut zu Gesicht stand und die für mich auch dem häufig geäußerten Take entgegen steht, Placebo seien keine Albumband. Sicher, die meisten späteren Platten von ihnen waren eher durchwachsen und am besten kann man sich ihnen auch heute noch über die vielen darüber verteilten Radiohits annähern, hier haben sie aber einmal in ihrer Laufbahn ein echtes Meisterwerk geschrieben.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢 10/11

Persönliche Höhepunkte
Pure Morning | Brick Shithouse | You Don't Care About Us | Without You I'm Nothing | the Crawl | Every You Every Me | Scared of Girls | Evil Dildo

Nicht mein Fall
My Sweet Prince


Hat was von
Muse
Origin of Symmetry

Skunk Anansie
Wonderlustre


Sonntag, 9. Juni 2024

Die Wochenschau (03.06-09.06.2024): Dua Lipa, Sia, The Lemon Twigs, Willow und und und...

 
 
 
 
 
 
 
 
THE LEMON TWIGS
A Dream is All We Know
Captured Tracks

Spätestens seit dem mehr oder weniger überraschenden Nischenerfolg von Everything Harmony im vergangenen Jahr ist das New Yorker Zwillingsduo the Lemon Twigs irgendwie das neue große Ding für nostalgische Musiknerds, deren Lieblingskünstler*innen irgendwie immer die sind, die die klanglichen Ästhetiken der späten Sechziger und frühen Siebziger am wirkmächtigsten reproduzieren. Das wird dem Talent dieser beiden Jungs in meinen Augen zwar nicht wirklich gerecht, man kann aber durchaus sagen, dass sie auf diese Weise die bestmögliche Zielgruppe ansprechen. Denn wie wenige andere Bands kriegen sie es hin, das kompositorische Gefühl der großen Pop-Vergangenheit anzuzapfen und in stimmige eigene Songs umzuarbeiten. Auf früheren Alben arbeiteten sie sich damit stets irgendwo zwischen Folk Revival und britischem Glamrock ab und schufen dabei fast immer ein wohlig-warmes Nostalgiegefühl, das auch technisch brilliant und authentisch ausgeführt war. A Dream is All We Know ist nun inzwischen ihre vierte LP in dieser Form und zielt ganz unverhohlen auf die ganz großen Namen ab: Lennon und McCartney, Brian Jones und Paul Simon sind Künstler, die dieses Album nicht nur irgendwie inspirieren, sondern nach denen die Twigs nicht zuletzt auch stimmlich klingen. Und wo das alles kompositorisch furchtbar toll ist und man nicht oft genug sagen kann, was für ein Gespür die Band für diesen musikalischen Vibe hat, ist A Dream is All We Know auch nicht ihr erstes Album, bei dem ich ein sehr bestimmtes Problem feststelle: Nicht selten fehlt ihren Songs zu einem gewissen grad eine eigene Persönlichkeit. Auch ich merke das nicht immer sofort, weil die beiden sehr gut darin sind, die emotionalen Kompositionstechniken zu emulieren, die die Klassiker von damals so toll machte, gefühlt sind die Emotionen dieser Songs aber eher die ihrer Vorbilder als tatsächlich ihre eigenen. Das reicht am Ende immer noch dafür, dass A Dream is All We Know mal wieder ein mehr als akzeptables Gesamtkunstwerk ist, das man für viele seiner Eigenschaften bewundern kann und sollte, in mir löst diese Band aber nicht die gleiche Begeisterung aus wie bei vielen anderen zurzeit. Und gemessen an meiner bisherigen Erfahrung mit ihnen wird das wohl auch so bald nicht mehr passieren.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11





KAMASI WASHINGTON
Fearless Movement
Young

Die letzten fünf Jahre über hat Kamasi Washington das gemacht, was er schon vor seinem Durchbruch 2015 mit the Epic am besten konnte: Musik mit Anderen und für Andere machen: 2020 komponierte er den Soundtrack für die Netflix-Serie Becoming, im gleichen Jahr war er Teil des Dinner Party-Kollektivs mit Robert Glasper, Terrence Martin und 9th Wonder. Fearless Movement ist nun sein erstes richtiges Soloalbum seit 2018 und für seine Verhältnisse fast schon bescheiden. Wo er früher gerne mal zwei bis drei Stunden mit neuem Material füllte, beschränkt sich diese Platte auf konservative 86 Minuten, was aber nicht heißt, dass er in diese nicht trotzdem jede Menge stilistische Hakenschläge packt. Nicht nur ist sein raumgreifender Jazz Fusion-Stil wie üblich episch unterbaut und zieht alle Register der opulenten Orchestrierung, es gibt auch erneut zahlreiche spannende Crossover-Momente zu hören. Insbesondere die Gastperformances der beiden Rapper und Taj Austin und D Smoke sind echte Higucker des Albums und insbesondere letztere im Song Get Lit hervorzuheben, da dort außerdem Funk-Legende George Clinton seinen Senf dazugibt und der Platte eine zusätzliche Funk-Schlagseite verpasst. Auch André 3000 ist auf Fearless Movement zu hören, allerdings nicht als Rapper, sondern wie schon auf seinem jüngsten Solo-Debüt als Flötist, wo er im Gegensatz zu besagtem Album auch das richtige Setting für sein Instrument findet und den Song tatsächlich gewinnbringend abrundet. Wie schon zuvor bei Kamasi Washington hat dann auch diese Platte ob der vielen Ideen und Einflüsse ein wenig das Problem der fehleden Kohärenz, ein bisschen wird dem aber dadurch entgegen gewirkt, dass die Songs an sich ziemlich lang sind und als solche zumindest in sich stimmig. Und obwohl das für mich nach wie vor ein Punkt ist, an dem die Arbeit mich etwas unerfüllt zurücklässt, bin ich doch ganz klar der Meinung, dass er hier mal wieder ein Album gemacht hat, das als wirkungsvoller Aha-Moment in der aktuellen Jazz-Landschaft dienen kann und ihn als einen Musiker zementiert, der immer wieder frischen Wind in die verstaubte Szene bringt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11






DUA LIPA
Radical Optimism
Warner

Ich kann über die neue Platte von Dua Lipa keine Sterbenswörtchen verlieren, ohne vorher noch einmal ganz ausdrücklich betont zu haben, dass ich Future Nostalgia, den Vorgänger der Britin von 2020, für eines der ultimativen Pop-Alben der letzten fünf bis zehn Jahre halte. Eine Platte, die zum Bersten voll war mit zeitlosen Hits, denen ich ein langes Leben in den Radiowellen der Gegenwart und Zukunft prophezeihe die und ganz nebenbei auch noch eine bewundernswerte technische Finesse und Liebe zum Detail an den Tag legte. Klar, dass es für mich da schwierig werden würde, einem Nachfolger wie diesem unvoreingenommen zu begegnen und keine unrealistisch großen Hoffnungen zu haben. Wobei ich zuletzt ehrlich gesagt eher ein bisschen die Erwartung hatte, dass Dua Lipa es ganz schön verkacken könnte. Die ersten Singles vor einigen Monaten waren in meinen Augen eher so lala und gingen nicht wirklich neue Wege, außerdem war das unmittelbare Echo bei Release von Radical Optimism doch eher verhalten. Dem entgegen muss ich nun sagen, dass sie sich hier insgesamt wacker schlägt. Sicher, die neue Platte ist keine Sensation auf dem Level des Vorgängers und es gibt ein paar Songs wie French Exit oder Whatcha Doing, die keine unmittelbaren Banger sind, unterm Strich ist das Ergebnis aber immer noch ein durchweg fetziges Pop-Album. Die großen Highlights wie Training Season, Maria und vor allem das geniale Falling Forever sind diesmal vereinzelter, aber in sich nicht weniger catchy und gut gemacht als Lipas beste Sachen von davor. Und abgesehen davon gibt es mit dem quasi durchgängigen Narrativ über Akzeptanz, das Überwinden von Eifersucht und - ganz im Sinne des Titels - grundlegendem Optimismus einen starken roten Faden, den in dieser Form bisher noch kein Album der Britin hatte. Weshalb Radical Optimism für mich den Status von Dua Lipa als unterschätzte Pop-Diva auf Weltniveau eher stabilisiert als bröckeln lässt und ich hiermit eher noch ein bisschen mehr zu ihrem Fan werde.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





WILLOW
Empathogen
Thee Six Zero

Ausgerechnet mit zwei bratzigen Pop Punk-Alben schaffte Willow Smith es in den vergangenen drei Jahren, mich auf ihre Seite zu ziehen und schuf mit diesen in meinen Augen vor allem eine solide Basis, um ihre zuvor stets noch etwas undefinierte Karriere als Musikerin in geordnete Bahnen zu leiten. Schon da hätte ich aber schon wissen sollen, dass jemand wie sie es nicht lange auf einem so vordefinierten musikalischen Pfad aushält und es über kurz oder lang absehbar war, dass sie musikalisch wieder in völlig andere Bereiche ausbricht. Und obwohl ein Teil von mir diese Tendenz irgendwie bedauernswert findet und gerne noch ein paar rotzige Punkplatten aus ihrer Feder gehört hätte, zeigt sie auf Empathogen doch auch eine neue Variante ihres Wegs als Künstlerin, mit der ich mich versöhnen kann. Denn immerhin bleibt sie hier stilistisch innerhalb der 12 Songs halbwegs auf der Spur und nimmt sich eines weiteren Sounds auf eine Weise an, die angebrachte Hingabe zeigt. Marschrichtung ist diesmal eine Art smoother Neo-Soul mit mindestens einem Bein im modernen Jazz, wobei letztere Anleihen mich seltsamerweise am ehesten an die Musik von Bands wie the Smile erinnern. Unerwartet kommt in dieser Hinsicht auch ein Feature von St. Vincent, selbst das wirkt aber nicht total out of place und zeigt vielleicht das größte Talent von Willow im Moment: Sich chamäleonhaft Stile und Ästhetiken anzueignen und dabei trotzdem so klingen, als würde sie diese schon ewig erforschen. Und obwohl Empathogen für mich nicht das nächste große Highlight ihres Katalogs werden wird, ist es doch trotzdem alles andere als enttäuschend.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





JOHN CARPENTER, CODY CARPENTER & DANIEL DAVIES
Lost Themes IV: Noir
Sacred Bones

 
 
 
Die letzten Jahre über haben verschiedene Remakes und Sequels von Horror-Klassikern aus den Achtzigern, für die John Carpenter schon damals die Scores machte, dem Altmeister wieder einiges an Auftragsarbeit eingebracht, Zeit für eine weitere Lost Themes-Episode hat er aber trotzdem gefunden. Auch die fällt wie schon ihr Vorgänger von 2021 verhältnismäßig rockig aus und erinnert so fast an Bands wie Maserati, Mogwai oder Zombi, die Carpenters Synth-Stilistiken aus den Achtzigern ja ihrerseits erst später in ursprünglich gitarrenlastige Klangkonzepte einfügten. Und obwohl auch diese Platte wieder durchweg instrumental gehalten ist und grundlegend nach Vintage-Kino und obskurem Gruselkram klingt, nutzt sie ihre Ungebundenheit dadurch, dass sie letztlich wahrscheinlich nicht gut als Score funktionieren würde, sondern strukturell eher etwas von Postrock hat. Für mich persönlich ist sie nicht zuletzt dadurch die erste Lost Themes-Platte, die mich wirklich angesprochen hat und mehr ist als eine gute Resterampe für alles Material, das selbst in der zwanzigsten Halloween-Neuverfilmung keinen Platz findet.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





SIA
Reasonable Woman
Monkey Puzzle | Atlantic

Es ist erstaunlich, wie Sia seit Jahren den Weg einer theoretisch sehr vielseitigen und ideenreichen Künstlerin geht, die musikalisch wirklich versucht, über den eigenen Tellerrand zu schauen, und dabei am Ende trotzdem immer das gleiche Ergebnis herausbekommt. Das spricht für ihren Charakter als Performerin, die insbesondere gesanglich absolut unverwechselbar ist, macht ihre Platten aber auch ziemlich gleichförmig. Und nach einer Supergroup mit Diplo und Labirinth, einem Weihnachtsalbum und einem eigenen Musical ist das bei ihrer ersten "normalen" LP seit 2016 leider wieder der Fall. Mit Little Wing findet sich darauf ein weiterer starker Quotenhit, der ihre Kernkompetenzen betont und mit Chaka Khan, Kylie Minogue, Tierra Whack und Paris Hilton (!) sind hier zahlreiche illustre Gastmusikerinnen vertreten, ambitioniert zeigt sich Sia also weiterhin. Bringt am Ende aber alles nichts, weil die meisten der Songs hier nichts relevantes zu ihrem künstlerischen Portfolio hinzufügen und eher ein bisschen farbloser und abgeschwächter kriegen als das meiste zuvor.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11





PETE PHILLY & PERQUISITE
Eon
Unexpected Records

 
 
 
Keine Ahnung woher dieses Comeback gerade eigentlich kommt, aber ich bin angenehm überrascht davon. Das holländische Hiphop-Duo Pete Philly und Perquisite, deren letztes gemeinsames Album 2007 erschien und von denen es auch solo kaum Material aus den vergangenen zehn Jahren gibt, hat sich hier quasi aus dem Nichts entschieden, eine neue LP aufzunehmen, die mich ein bisschen in meine eigene Vergangenheit als Rap-Hörer zurückwirft. Das letzte Soloalbum von Pete Philly aus dem Jahr 2011 hatte ich seinerzeit gehört und mochte es sehr für seine gediegene, unangestrengte Art und die Performance des Rappers, die fast schon etwas von Indiefolk hatte. Hier findet man dieses Songwriting erneut und erstaunlicherweise funktioniert es über weite Strecken auch noch richtig gut. Dabei hilft es ungemein, dass die beiden in Sachen Hooks einiges vorlegen und sich nicht davor scheuen, ernsthaft melodisch zu werden. Und klar ist das dann für manche Hiphop-Hardliner vielleicht zu soft und europäisch, wer aber Sachen wie Homeboy Sandman oder Macklemore mag, für den*die könnte das hier auch eine Empfehlung sein.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11