Sonntag, 23. Oktober 2016

Bringing It All Back Home

CONOR OBERST
Ruminations


Nonesuch / 2016















Bis zum letzten Jahr wäre meine einführende Behauptung über Conor Oberst sicherlich gewesen, dass er sein künstlerisches Zenit bereits hinter sich hat. Seine große Emo-Songwriter-Ära mit den Bright Eyes und Platten wie Lifted oder I'm Wide Awake It's Morning ist seit langem vorbei, dieser Tage erscheint als großes Rerelease-Highlight ein Album-Bundle des Projektes. Nebenbei dümpelten bis vor kurzem noch seine Solokarriere und ein paar Nebenjobs vor sich hin, die nicht wirklich viel feierbares abwarfen. Und wer gute, traurige Folksongs hören wollte, schaute sich mittlerweile lieber bei Sun Kil Moon oder Bill Callahan um. Es sah für das einstige Wunderkind des einfühlsamen Emo also nicht besonders rosig aus. Dann kam 2015 allerdings das Comeback seines unterschätzten Punkrock-Seitenarmes Desaparecidos auf den Markt, dass es unter meine absoluten Lieblingsstücke jenes Jahres schaffte. Was für mich plötzlich hieß, dass es noch immer wichtig war, diesem Typen zuzuhören und dass man einen großen Fehler machte, wenn man ihn einfach unter den Teppich der lange verglühten Nuller-Phänomene kehrte, die nichts relevantes mehr zustande bringen. Und ich bin froh über diese Erkenntnis, denn mit seiner neuen Soloplatte Ruminations setzt er seinen vorsichtigen zweiten Frühling nun überzeugend fort. Nach dem dick aufgetragenen offiziellen Vorgänger Upside Down Mountain und der gerade wiederentdeckten Punk-Energie sind diese knapp vierzig Minuten sein bisher vielleicht am stärksten zurückgenommenes und einsames Werk. Denn auch wenn Conor schon immer jemand war, der einem emotional sehr nahe sein konnte und der verstand, was Intimität in Songs bedeutete, wusste er auch immer, wie man diese Wirkung mit großen musikalischen Gesten verband. Und so ist es tatsächlich etwas neues, eine dermaßen reduzierte LP von ihm zu hören. Wenn man dem Künstler selbst glaubt, wurde Ruminations in gerade mal 48 Stunden komplett aufgenommen und wenn man sich die zehn Stücke anhört, liegt das durchaus im Bereich des möglichen. Mit nicht mehr als einem Klavier und einer Gitarre ausgestattet betet Conor hier seine typisch lebensechten Weltschmerz-Lyrics herunter und begleitet sich selbst dazu auf der Mundharmonika. Nicht selten muss man gerade wegen letzterer Tatsache oft an den jungen Bob Dylan denken. Doch trotz ihrer sporadischen Aura und dem wenigen Drumherum wirken seine Songs niemals leer oder unausgefüllt. Im Gegenteil, das was man hier hört, erinnert wieder sehr an Obersts Heydays und überrascht eingefleischte Hörer gleichzeitig mit komplett neuen Ansätzen. Ich kann mich zum Beispiel an keine Platte erinnern, auf der der Künstler so viel mit dem Klavier als Basisinstrument arbeitete. Und auch der fast schon inflationäre Einsatz der Mundharmonika ist eine Facette, die relativ neu ist aber dennoch wahnsinnig gut funktioniert. Man könnte meinen, dass Conor Oberst nach fast 20 Jahren der musikalischen Aktivität den wirklichen Songwriter in sich entdeckt hat. Dass er hier seinen bisherigen Perfektionismus zugunsten eines experimentellen Ansatzen aufgibt, der viel interessanter sein kann als die totale Kontrolle. Es kann aber auch sein, dass Ruminations wieder eine seiner berühmten Phasen ist, die er ganz schnell wieder abschließt. Was auch immer am Ende das Resultat ist, mit dieser Platte hat mich der New Yorker ein weiteres Mal davon überzeugt, dass seine Arbeit noch immer von Bedeutung ist und dass man vielleicht gerade jetzt wieder auf ihn aufmerksam werden sollte. Man könnte sonst noch richtig was verpassen.
8/11

Beste Songs: Tachycardia / Barbary Coast (Later) / A Little Uncanny / Next of Kin / Till St. Dymphna Kicks Us Out

Nicht mein Fall: Mamah Borthwick (A Sketch)

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