Sonntag, 26. März 2023

Review: Stolz wie ein Göttinger

GUANO APES
Walking On A Thin Line
Supersonic
2003














[ energisch | bratzig | rockig ]

Es geht in den letzten fünf Jahren auf diesem Format ja immer wieder um die seit einiger Zeit stattfindende Reevaluierung des kulturellen Phänomens New Metal und wie eine Generation junger Hörer*innen, die sich in der ewigen Tradition des Zwei-Dekaden-Nostalgieloops nun mit der Szene beschäftigt, langsam die Spreu vom Weizen trennt. Die bestimmt, welche Bands und Platten diejenigen sein werden, auf die die Geschichte wohlwollend zurückblickt und zu ewigen Klassikern macht (bis dato vor allem System of A Down, die Deftones, Linkin Park, vielleicht Limp Bizkit und für mich persönlich auch Soulfly) und welche peinliche Ausrutscher eines adoleszenten Pop-Trends bleiben, die aus gutem Grund vergessen werden (am ehesten Disturbed, Marylin Manson, Drowning Pool und sehr wahrscheinlich Limp Bizkit)? Über viele dieser Bands und ihr langfristiges Erbe habe ich in den vergangenen Jahren geschrieben und mutegemaßt, heute soll es aber um eine Gruppe gehen, die eigentlich schon lange zu den Vergessenen gehört und an die viele gar nicht denken würden. Und das obwohl sie einst zumindest in Deutschland der größte Exportschlager dieser Szene waren: die Guano Apes. Bevor jetzt jemand fragt: Ja, ich liebe es, alte Kamellen wie diese aus der Versenkung zu holen und über deren Coolness zu debattieren. Selbst wenn (oder gerade weil) ich die eigentlichen Heydays dieser Formation nie selbst miterlebt habe. Walking On A Thin Line kenne ich aus der präpubertären CD-Sammlung meines großen Bruders (der Ecke mit den Platten, die ihm wahrscheinlich inzwischen sehr peinlich wären), aus der ich es irgendwann während meiner Teenagerzeit freimütig in meine beförderte. Zu einer Zeit, in der die Guano Apes selbst nur noch die 16 Uhr-Slots bei Rock am Ring bekamen und furchtbare Sachen wie Offline vielleicht noch bei nostalgischen Millenials im Radio liefen. Als eine ernsthaft coole Band habe ich die Göttinger also niemals erlebt, was aber nichts daran änderte, dass ich Walking On A Thin Line immer echt gerne mochte. Wobei ich auch sagen muss, dass er Hauptgrund für meine Besprechung an dieser Stelle ist, dass ich die Platte inzwischen auch wieder fast zehn Jahre nicht gehört habe und einfach mal wissen wollte, wie mies sie inzwischen gealtert ist. Die erstaunliche Feststellung dabei: Das Ding fetzt immer noch. So sehr, dass ich es in meinem anfangs aufgestellten Himmel-Hölle-Spiel der New Metal-Nostalgie ganz klar unter den cooleren Sachen einordnen würde. Denn auch wenn Guano Apes musikalisch nie wirklich eine innovative oder spezielle Band waren, gibt es hier durchaus ein paar Sachen, die mich an dieser Platte haben aufhorchen lassen und die ich so nicht bei vielen Acts ihrer Periphärie feststellen kann. Wobei die erste und wichtigste davon in Sandra Nasic als Frontfrau dieser Band begründet liegt, die hier in vielerlei Hinsicht eine sehr besondere Performance leistet. Zum einen ist sie als Frau im testosteronangereicherten Anabolika-Cocktail des New Metal natürlich eine seltene Erscheinung, die die Guano Apes schon im Vornherein anders machte und immer wieder Thema war. Was mich dabei aber vor allem interessiert ist, dass sie als solche auch ein verdammtes Brett ist und in jedem Moment der Mittelpunkt dieser Band. In so gut wie allen Songs auf diesem Album sind es ihre Hooks und ihr Gesang, die das Geschehen der Tracks lenken und das definitiv zu recht. Ein unfassbar eingängiger Song jagt auf dieser LP den nächsten und egal ob das ganze brachial stattfindet wie in Diokhan und Storm oder melodisch-verwunschen wie in Kiss the Dawn, Nasic rasiert konsequent. Dabei mag sie als Lyrikerin nicht so talentiert sein wie als krachige Rampensau, trotzdem stelle ich - und das ist die zweite wichtige Besonderheit - in ihrer Attitüde etwas fest, das vielen Zeitgenoss*innen in der Szene häufig abging: Spaß. Und das ist für das gelingen dieser LP ein extrem wichtiger Faktor. Denn wo viele andere Bands Anfang der Zwotausender sich in grummeliger Teenage Angst und finsterer Schwarzmalerei ergossen, sind diese Göttinger angenehm rockig und souverän unterwegs. Klar gibt es auf Thin Line auch einige negative Gefühle, die gehen dann aber eher in die Richtung einer gerechten Wut und sind immer mit Galle und gestrecktem Mittelfinger performt. Und vor allem musikalisch drücken die Apes aufs Gaspedal. Zwei Drittel der Songs hier sind komplette Bretter, der Rest kriegt zumindest in der Hook einen ordentlichen Energieboost. Einzig das etwas lauwarme Pretty in Scarlet scheidet in der Hinsicht aus, was es aber auch konsequenterweise zum schwächsten Song der Platte macht. Ansonsten geht es ordentlich zur Sache: Dick, Diokhan und Storm kann man quasi in einen Topf als Druckmacher des Albums werfen, Kiss the Dawn ist der sich anschleichende Slowburner, Quietly die Powerballade mit Single-Potenzial und You Can't Stop Me - soviel zum Thema Optimismus -  das selbstbewusste Eingangsstatement einer Band, die sich musikalisch gefunden hat. Plastic Mouth war früher mein Lieblingssong, jetzt finde ich ihn eher okay. Ein Meisterwerk oder großes künstlerisches Erlebnis ist Walking On A Thin Line bei alledem nicht, dafür ist es zu bodenständig und zu poppig und an manchen Stellen hätte ich mir auch gewünscht, dass die Produktion dem Songwriting ein bisschen mehr nachhilft und gerade Bass und Schlagzeug im Mix mehr hervorhebt. Was die Platte aber gut und wertvoll macht ist, dass sie gut gealtert ist und 2023 zwar definitiv ein Produkt ihrer Zeit bleibt, diese aber gut repräsentiert und selten peinlich oder überkandidelt wird. Und das ist für Sachen aus dieser Zeit und aus dieser Szene schon einiges wert, besonders wenn die Band aus Deutschland kommt. Zumindest für dieses Album würde ich deshalb also sagen, dass die Guano Apes zu den coolen zählen dürften. Sicherlich auch aus dem Grund, weil es hiervon ganz bestimmt nicht so eine komische Sonder-Jubiläumsedition geben wird.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11


Persönliche Höhepunkte
You Can't Stop Me | Dick | Kiss the Dawn | Diokhan | Sing That Song | Scratch the Pitch | Storm

Nicht mein Fall
Pretty in Scarlet


Hat was von
Incubus
Make Yourself

KoRn
KoRn


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen