Mittwoch, 15. Januar 2020

Freiheit für Poppy

[ creepy | niedlich | dynamisch ]


Die Künstlerin Moriah Rose Pereira, der Welt bekannter unter dem Pseudonym Poppy, ist ein Phänomen, das 2020 schon lange kein Nischendasein mehr führt. Seit inzwischen sieben Jahren ist die Kalifornierin in diversen Bereichen der kreativen Produktion aktiv und hat dabei vor allem mit ihrer schrägen Ästhetik und ihrem performativen öffentlichen Auftreten einen Namen für sich geschaffen. Seit 2015 tut sie das auch hauptsächlich als Musikerin, die inzwischen regelmäßig tourt und mit I Disagree ihren bereits dritten Longplayer veröffentlicht. Die letzten Monate des Jahres 2019 waren für Poppy allerdings nochmal von spezieller Bedeutung, da hier erstmals sehr deutlich die Hintergründe ihrer Kunstfigur klar wurden und sich zeigte, wie wenig funktional vieles darin ablief. Eng verbunden mit diesen Hintergründen ist der Produzent und Regisseur Titanic Sinclair, der seit 2014 sehr wesentlich am Projekt mitarbeitete und je nach Quelle Schöpfer, Kreativpartner oder Nutznieser der Kollaboration war. Nachdem über das letzte Jahr hinweg viele unschöne Dinge über ihn und seine Rolle in Bezug auf Mars Argo, Grimes und Poppy ans Licht kamen (genaueres bitte selbst googeln), gab Pereira Ende Dezember schlussendlich bekannt, ihre Zusammenarbeit mit Sinclair zu beenden. Die Nachricht war bis dato der Schlussstrich einer sehr umfangreichen Schlammschlacht der beiden PartnerInnen, bei der es viel um persönliche Verfehlungen geht, vor allem aber auch um Rechte und kreative Anteile. Was die Frage aufwirft: Wo steht I Disagree an dieser Stelle? Angekündigt wurde die Platte schließlich bereits im September, als das Verhältnis der beiden noch sehr gefestigt war, ihr Weggang vom eigenen Label, der neue Deal bei Sumerian und die Tatsache, dass die LP weiterhin zum ursprünglichen Release-Termin erscheint (es also wahrscheinlich keine Änderungen in den Credits gegeben hat), sprechen dafür, dass das hier Poppys erstes von Titanic Sinclair unabhängiges Projekt ist. Das ist nicht nur deshalb gut, weil sich die Künstlerin damit aus einer anscheinend sehr toxischen Geschäftsbeziehung befreit, man hört es dem Album auch an. Von allen Platten, die ich von der Kalifornierin bisher gehört habe, ist I Disagree die erste, in der ich wirklich eine kreative Identität höre, die zu mehr taugt als zu einem bloßen Produkt und etwas sehr energisches und lebendiges hat. Zwar waren auch schon ihre letzten Projekte wie die Choke-EP oder ihre Kollaborationen mit Grimes und Fever 333 eher experimenteller Natur und bezogen großzügig Einflüsse aus Groove Metal und Industrial mit ein, doch hatte man dabei noch immer das Gefühl, das ganze wäre bloß ein provokatives Gimmick, das die Gesamtmarke Poppy verkaufen sollte. Klar waren die Songs der letzten zwei Jahre schon besser als ihre ganz frühen Sachen auf Bubblebath oder Poppy Computer, doch war Pereira für mich noch immer primär das gruselige Mädchen mit den Performance-Skits auf Youtube. Es brauchte erst dieses Album, um Poppy auch als Musikerin glaubhaft zu machen. Auf I Disagree habe ich das erste mal das Gefühl, eine wirklich ambitionierte und hungrige Künstlerin zu hören, die das was sie tut auch aus künstlerischem Interesse macht und nicht, weil es wahrscheinlich Klicks generiert. Viele Songs hier sind so viel mehr als das stupide Aneinanderklatschen von Bubblegum-Pop und Groove Metal, sondern besitzen echte kompositorsiche Tiefe. Die Riffs sind nicht nur fett, sondern dienen auch dem Gesamtsong, die Hooks sind unendlich viel schöner, Poppys Stimme klang noch nie so gut (im Sinne von so normal) wie hier und die Produktion spiegelt den Tonus des Albums wieder: Abenteuerlich aber nicht zu ausgeflippt. Wo man vorher immer ein bisschen den Eindruck hatte, die Grundidee ihrer Tracks wäre einfach billig bei Babymetal abgekupfert, findet man hier ein so viel größeres Spektrum, das auch geniale Gitarrensoli, orchestrale Drops, gefühlsechte Balladen und Elektropop-Momente einarbeitet. Erkennbare Einflüsse kommen hier von Queen, Marilyn Manson, Billie Eilish, den Nine Inch Nails oder Lingua Ignota, sind also viel weitläufiger als bisher. Trotzdem findet das ganze in den meisten Momenten stimmig zusammen und man hat hier den Eindruck, eine aufgefrischte Version des etablierten Poppy-Konzepts zu hören. Auch dass sich die Platte zum Ende hin etwas zurücknimmt und melodisch klarer wird, ist keine schlechte Idee. Sicher, nicht alles haut hier auf Anhieb perfekt hin. So sind die letzten beiden Stücke der Platte doch ein bisschen dröge, im Opener Concrete überstürzen sich die Motive etwas zu sehr und die Spielzeit von 35 Minuten reicht dem kreativen Geist dieser LP nicht wirklich aus, mehr als Schönheitsfehler sind das aber nicht. Viel präsenter ist nämlich der umfangreiche Kern aus genialen Songs und Ideen, die hier zusammenfinden und nicht nur äußerst kreativ sind, sondern vor allem auch Spaß machen. Und die mir zeigen, was diese Poppy auch als Musikerin für ein großartiges Talent hat. Wenn das hier tatsächlich das Album ist, mit dem sie sich aus dem künstlerischen Schraubstock ihrer bisherigen Zusammenarbeit mit Titanic Sinclair befreit hat und jetzt endlich ihr Ding macht, kann ich gar nicht erwarten, wie sich die kommenden Monate und Jahre bei ihr anhören. Denn obwohl diese LP schon irre gut ist, wird von hier nur noch viel mehr möglich im Kosmos Poppy.



Klingt ein bisschen wie:
Babymetal
Babymetal

Billie Eilish
When We All Fall Asleep, Where Do We Go?

Persönliche Highlights:
Concrete | I Disagree | Bloodmoney | Anything Like Me | Fill the Crown | Nothing I Need

Nicht mein Fall:
Sick of the Sun | Don't Go Outside

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