Mittwoch, 21. Juni 2023

Review: Transzendenz und Transgender - Auf Spurensuche mit Ravenna Hunt-Hendrix

Liturgy - Aesthethica
 PRIDEMONTH2023  
LITURGY
Aesthethica
Thrill Jockey
2011











[ experimentell | krachig | herausfordernd | transzendental ]

Als Ravenna Hunt-Hendrix sich 2020 als Transfrau outete, kommentierte ich diesen Schritt schon seinerzeit als das mutige Statement einer tollen Nischenkünstlerin, der es bis heute in meinen Augen ist. Denn nicht nur braucht es generell und für jede nonbinäre Person nach wie vor Courage, sich öffentlich zu einer solchen Identität zu bekennen und sich damit gegebenenfalls bescheuerten und rückwärtsgewandten Anfeindungen auszusetzen, Hendrix ist noch dazu eine der ganz wenigen Personen, die diesen Schritt aus dem Hintergrund der Metal-Szene gewagt hat. Eine Szene, in der leider nach wie vor viele hässlich-konservative Überzeugungen ihre Kreise ziehen und die in solchen Fällen gerne mal besonders ekelhaft wird. Vor allem gilt das dabei nochmal für Fans des Black Metal, dessen Ursprüngen Hendrix ja entstammt und dessen ewiggestrige Anhänger*innenschaft sie schon seit Ewigkeiten auf dem Kieker hat. Für sie war ein Outing als nonbinäre Person wahrscheinlich nur der nächste Schritt des umfangreichen Verrats, den die New Yorkerin bereits seit Anbeginn ihrer Karriere an den Traditionen des Genres verübt und wo ja sowieso schon Hopfen und Malz verloren ist. Was mich in diesem Post aber interessiert ist nicht diese Sicht, über die ich und Andere nun inzwischen schon reichlich (virtuelle) Tinte vergossen haben. Mich interessiert viel eher die Ansätze ihrer Nonbinarität und wie sie vielleicht schon sehr früh im Katalog von Liturgy zu erkennen waren. Denn wenn man sich vielleicht noch an 2011 und die Debatte um deren zweites Album Aesthethica erinnert, war ein Begriff damals besonders wichtig für das Selbstverständnis der Band: Transzendenz. Was genau damit gemeint war, schilderte Hendrix seinerzeit in einem umfangreichen philosophischen Begleitmanifest, bei dem viele ob des pretenziösen und überkandidelten Charakters erstmal die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. Aber als dann das Album kam, musste man eben doch zugeben, dass die Band musikalisch das umsetzte, was in dem Pamphlet gefordert war: Eine affirmative und offene Form von Black Metal, die nicht nur stilistisch ein Aufbruch von den heiligen Traditionen ist, sondern vor allem auch inhaltlich weggeht vom ewigen Düstertum und Nihilismus der norwegischen Urahnen. Vorformuliert hatten das in den Zwotausendern schon Bands wie Krallice, Agalloch oder Wolves in the Throne Room mit ihrem eher naturverbundenen, romantischen Genrekonzept, Liturgy machten in meinen Augen aber erst so richtig eine Mission daraus. Und in sowas dann ein sehr abstraktes Narrativ der Wandelbarkeit von Zuständen, der Entgrenzung und der inneren Bestätigung zu machen, passt ja auch in die Erfahrungswelt nonbinärer Personen. Ich will dabei nicht etwa sagen, dass Aesthethica der Punkt gewesen ist, an dem man eigentlich schon alles hätte ahnen können, sondern viel eher, dass Ravenna Hendrix mit Themen dieser Art wohl schon eine ganze Weile schwanger lief. Aber lassen wir das inhaltliche Mal und reden über die Musik, die ja zum Glück auch ohne den ganzen philosophischen Überbau funktioniert. Denn einer der spannendsten Entwürfe eines Black Metal-Albums ist das hier so oder so. Schon auf dieser Platte, die für Liturgy ja erst die zweite war, erkennt man an vielen Stellen die Liebe für Repetition und schrille Soundkulissen, die sie 2015 auf the Ark Work perfektionieren sollten, nur dass sie hier noch eindeutig im Metal fußt. Die infernalischen Staccato-Burstbeats von Greg Fox, die tiefschürfenden Gitarrenkaskaden, Hendrix' sehr verhallter Gesang und die extrem höhenlastige Produktion sorgen für einen im wahrsten Sinne des Wortes ohrenbetäubenden Sound, der durch das sehr ballerige und loopige Songwriting und die polyrhythmischen Einschübe nicht weniger herausfordernd wird. Wenn man für sowas aber bereit ist und statt Emperor und Mayhem vielleicht auch Mal Can oder Sigur Rós gehört hat, ist es eine Offenbarung. Gerade auf klanglicher Seite öffnen Liturgy durch ihren ebenso dichten wie anmutigen Sound des öfteren die musikalischen Himmelspforten und lassen eine fast schon sakrale Wirkung zu. Allerdings auch nicht so postrockig und flauschig wie es zwei Jahre später Deafheaven auf Sunbather machten, sondern eher mit der technischen Detailverliebtheit und strukturellen Coolness von Renaissancemusik und Carl Orff. Ebenfalls eine Tendenz, die die Band später noch ausbauen würde und die ihnen in der amerikanischen Black Metal-Szene der frühen Zwotausendzehner (damals auch abfällig als "Hipster Black Metal" bezeichnet) eine kuriose Schlüsselposition gibt. Wo Wolves in the Throne Room, Agalloch und Krallice die großen Wegbereiter waren und Deafheaven die Posterboys, die den endgültigen Durchbruch brachten, sind Liturgy eine Art kontroverser Zwischenpart. Bekannt geworden vor allem dadurch, wie sie von so vielen Leuten gehasst wurden, aber gerade deswegen auch die ersten, die mit einem solchen Sound Eingang in die Indiepresse fanden. Mal ganz davon abgesehen, dass sie selbst mit Aesthethica noch weit davon entfernt waren, ihre finale Form zu erreichen. Für mich ist die Platte trotzdem eine der stärksten Metalplatten der gesamten letzten Dekade und hätte es eigentlich verdient ihr Opus Magnum zu sein, wäre da nicht das noch dreimal visionärere und bombastischere Ark Work. Ihr bekanntestes und gewissermaßen auch berüchtigstes Werk wird es aber trotzdem für immer bleiben. Mit oder ohne dazugehörigem Manifest.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢 10/11


Persönliche Höhepunkte
High Gold | True Will | Generation | Tragic Laurel | Sun of Light | Helix Skull | Glory Bronze | Veins of God | Red Crown | Harmonia

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Krallice
Years Past Matter

Deafheaven
Sunbather


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