Sonntag, 11. Juni 2023

Review: The Girl From Philadelphia (R.I.P. Astrud Gilberto)

Astrud Gilberto - The Shadow of Your Smile
ASTRUD GILBERTO
The Shadow of Your Smile
Verve
1965











 
 
[ leichtfüßig | smooth | poppig ]

Als Astrud Evangelina Gilberto am 5. Juni diesen Jahres in Philadelphia starb, war die Musikerin 83 Jahre alt und damit in einem Alter, in dem sie die brasilianische Popmusik durch ihr Zutun fast ein Dreivierteljahrhundert bereichert hatte. Geht es jedoch darum, wie sie der Nachwelt in Erinnerung bleiben wird, dann existiert sie höchstwahrscheinlich für immer als eine von ihrem eigenen Mythos konservierte Version ihres 23-jährigen Selbst, mit dem sie als eine Art ewiges Symbol ihren eigenen größten Hit personifiziert: Den des Mädchens aus Ipanema, als das sie 1963 dem gleichnamigen Song ihre Stimme lieh. Ein Song, der nicht nur einer der größten internationalen Erfolge brasilianischer Pop- beziehungsweise Jazzmusik aller Zeiten ist, sondern einer der ultimativen Standards jener gewissen Easy-Listening-Ästhetik, die mittlerweile gemeinsam mit El Condor Pasa oder dem einsamen Hirten für alle Zeiten von schlechten Loungebands, Schlagerstars und der unsichtbaren Hand der Public Domain totgedudelt wird. Und das, obwohl das Origninal, das Astrud 1963 gemeinsam mit ihrem damaligen Mann João Gilberto und Stan Getz einspielte, an sich gar nicht schlecht gealtert ist. Wenn man über die Karriere der Brasilianerin spricht, ist es aber sowieso nur die Spitze des Eisberges und lediglich der Anfang eines Katalogs von Studioalben, dessen Ausläufer sich bis in die frühen Zwotausender zogen. Darunter ein Album zu finden, dass irgendwie als das eine Lieblingsalbum angesehen werden kann, ist nicht einfach, zumal ich gerade Mal die ersten vier bis fünf Jahre ihres Katalogs wirklich kenne. Einerseits war diese Periode aber auch mit Abstand ihre prägendste Zeit als Musikerin und enthält mit the Shadow of Your Smile zweitens die Platte, die ich darin zumindest als die wichtigste erachte. Denn hier findet in meinen Augen die für ihre Laufbahn so elementare Übergang von der Jazzvokalistin zur Pop-Diva statt, die zu diesem Zeitpunkt auch nicht von ungefähr kommt. Nachdem 1965 die Ehe der Gilbertos, die für die Karrieren der beiden bis dahin immens fruchtbar gewesen war, ziemlich hässlich in die Brüche ging und Astrud ihr eigenes Standing suchte, fand sie dieses vor allem in ihrer neuen Heimat in den Vereinigten Staaten. Mit Stan Getz, dem Hauptkomponisten von the Girl From Ipanema, hatte sie eine belegte Affäre, und auch mit Frank Sinatra wurde ihr damals einiges an Techtelmechtel angedichtet. Dass ihre beiden ersten Soloalben, die sie in diesem Jahr veröffentlichte, also stärker auf den US-amerikanischen Markt abzielen, könnte man also darauf zurückführen. Ganz selbstverständlich singt sie dabei Songs auf englisch, covert aktuelle Klassiker und Standards und bewegt sich dabei auch mehr und mehr Weg von ihren jazzigen Wurzeln. Wo das (sozusagen) selbstbetitelte Debüt vom Februar aber noch deutlich im einer älteren Ästhetik verhaftet ist, geht the Shadow of Your Smile schon zaghaft den Weg in Richtung Pop und traut sich dabei auch durchaus, anbiedernd zu sein. Und sicherlich machen das wenige Sachverhalte so klar wie die Existenz des Titeltracks, der zwar nicht von Gilberto im Original eingespielt wurde, als Teil des Soundtracks zum Film the Sandpiper aber zumindest zeitgleich erschien und später unter anderem von Größen wie Tony Bennett, Barbra Streisand, Ella Fitzgerald, Frank und Nancy Sinatra sowie Marvin Gaye und (oddly enough) Udo Lindenberg gecovert wurde. Neben Ipanema ist es damit höchstwahrscheinlich der wichtigste Song von Gilberto und wahrscheinlich einer der letzten großen Jazz-Standards der Sechziger. Mit dem Closer Funny World ist auch ein weiterer Track aus einer Filmmusik auf the Shadow of Your Smile zu hören, diesmal aus der italienischen Dokumentation Malamondo von 1964 mit Adriano Celentano, die zwar anscheinend ein ziemlicher Flop war, aber mit diesem Stück (an dessen Komposition unter anderem Ennio Morricone beteiligt war) doch nochmal ein starkes Ausrufezeichen ans Ende der Platte setzt. Dazwischen finden sich unter anderem eine ziemlich unspektakuläre Bearbeitung von Bart Howards Fly Me to the Moon, verschiedene Versionen von Luiz Bonfá-Songs und mit Day by Day eine weitere Interpretation eines Stücks, das vor allem durch Frank Sinatra bekannt wurde. Wirklich viele Highlights gibt es in dieser seifig-kitschigen Bossa Nova-Mischung nicht, auch wenn Gilberto mit Sachen wie O Ganso oder (Take Me to) Aruanda durchaus versucht, ein paar flottere Nummern einzubauen. An vielen Stellen wirkt die LP außerdem wie eine ziemlich hehllose Anbiederung an den damaligen Exotismus der US-Popmusik, den die Sängerin auf der einen Seite mit soften brasilianischen Cocktail-Melodiechen durchzubringen weiß, auf der anderen Seite muss man bei ihr dafür aber keine Sprachbarriere überwinden und bekommt zum Anfüttern Versionen bekannter Popsongs vorgesetzt. Das coole an the Shadow of Your Smile ist letztendlich, dass es unter diesen Bedingungen trotzdem ein okayes Album bleibt. Viele musikalische Importe aus Lateinamerika, die in den USA Mitte der Sechziger erfolgreich waren, waren bis zur Unkenntlichkeit verwurstete Mistversionen ursprünglicher Sounds, die meistens auch grauenvoll produziert und arrangiert waren. Und obwohl Astrud Gilbertos Musik in dieser Phase ihrer Karriere definitiv in diese Kategorie von Styles gehörte, hört man bei ihr doch noch sehr deutlich eine Würde als Performerin, die diesen Schritt hier ganz bewusst geht und eben nicht Marktfutter ist, sondern das Werk eines echten Popstars. Und das ist sie hier, unabhängig davon dass the Shadow of Your Smile nur das untere Mittelfeld der Top 100 erreichte und auch die letzte Platte war, mit der sie überhaupt in den US-amerikanischen Charts landete. Denn in meinen Augen hatte sie das wichtigste, was es dafür braucht: nämlich die Attitüde.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11


Persönliche Höhepunkte
Manha de Carnival | the Gentle Rain | Who Can I Turn To? | Day by Day | Tristeza | Funny World

Nicht mein Fall
(Take Me to) Aruanda | Fly Me to the Moon


Hat was von
Ana Lúcia
Canta Triste

Luiz Bonfá
Sings & Plays Bossa Nova


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen