Donnerstag, 27. April 2023

Review: Step Inside Again

Motorpsycho - Demon Box MOTORPSYCHO
Demon Box
Voices of Wonder
1993
 
 











[ krachig | episch | vielschichtig ]

Bei Motorpsycho war die Kacke am Dampfen im Herbst 1992: Nach zwei relativ erfolglosen Alben für das ihr damaliges Label Voices of Wonder und unermüdlichen, aber mittelfristig ebenso fruchtlosen Europatourneen sah es für einen Moment ganz so aus, als wäre die fixe Idee mit der Profikarriere als Rockband erstmal nichts geworden. Ein letztes Album stand noch in ihrem damaligen Plattenvertrag, die Erfolgschancen dafür sind jedoch aufgrund der bisherigen Erfahrungen eher mager und die Wahrscheinlichkeit einer Vertragsverlängerung damit gering. Und welches andere Label würde sich schon für eine Band wie diese hier erwärmen, die mit ihrem grobschlächtigen Stoner-Noise-Metal zwar stilistisch irgendwie am Puls der Zeit ist, sich in den aufkommenden Grunge-Hype aber nur widerwillig einordnen lässt? Mal ganz abgesehen davon, dass die zwei bisherigen Platten kompositorisch doch eher dürftig sind. Doch die Band aus Trondheim will sich noch nicht ganz unterkriegen lassen und ist für diesen letzten Versuch bereit, wirklich alles auf eine Karte zu setzen. Wobei auch unkonventionelle Maßnahmen das Gebot der Stunde sind. Für den Songwritingprozess der dritten LP setzen Motorpsycho die Maßgabe, dass keine Idee zu blöd oder zu stilfremd für einen potenziellen Albumtrack sein soll und dass an jeder davon so akribisch gearbeitet wird, bis daraus ein fertiger Song wird. Ein Arbeitsprozess, der erstmals auch nicht ohne zusätzliches Personal auskommt: Mit Produzent Helge Sten, Keyboarder Lars Lien und dem amerikanischen Poeten Matt Burt, der Sänger Bent Saether wesentlich bei seinen Texten unter die Arme greift, findet sich um Motorpsycho hier eine Art kreative Peripherie, die einen entscheidenden Einfluss auf die Ästhetik der Stücke hat. Wobei das Ergebnis, das über den Jahreswechsel 1992/93 unter widrigen Bedingungen in den Brygga-Studios in Olso zusammengeschraubt wird, diese Herangehensweise auch spiegelt: Am Ende stehen auf dem fertigen Album vierzehn Songs in 71 Minuten, die zwischen Folk, Noise, Grunge, Prog und Psychedelic ein ganzes Füllhorn an Stilistiken repräsentieren und ästhetisch alles mitnehmen, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist. Ein echtes Mammutwerk also. Und als solches auch eines, das im Vergleich zu seinen direkten, noch sehr rudimentären Vorgängern wesentlich durchdachter ist. Man sollte es aufgrund der experimentellen Alles-kann-nichts-muss-Attitüde des Songwritings eigentlich nicht vermuten, doch Demon Box enthält nicht nur viele Ideen, sondern verbaut diese auch zu einer unfassbar starken klanglichen Konzept-Dramaturgie, die im Katalog von Motorpsycho auch 2023 noch ihresgleichen sucht. Und das, obwohl es nicht mal in dem Sinne ein Konzeptalbum ist. Angefangen mit dem freakfolkigen Waiting for the One, das eher noch wie eine verschnörkelte Spaßnummer klingt, begeben sich die Norweger hier schnell in den finsteren Kaninchenbau eines musikalischen Höllentrips, der in der über das gesamte Album hinweg eine Art Reise in die Finsternis und wieder zurück beschreibt. Vorbei an wuchtigen Riff-Bretten wie Nothing to Say, dem noisigen Feedtime oder dem Moondog-Cover All is Loneliness findet die Platte dabei Stück für Stück den Weg in eine zwielichtige Schattenwelt, die spätestens mit den avantgardistisch-soundcollagigen Parts in Come On In und Step Inside Again ziemlich creepy werden kann und mit dem 17-minütigen Titelsong schließlich einen dramatischen Dreh- und Angelpunkt findet, der mit seinen krachigen Noise-Interludes, dem komplett geistesgestörten Gesang von Bent und einem der monstösensten Gitarrenriffs aller Zeiten definitiv das dunkle Herz dieser LP ist. Und wo Demon Box schon eine geniale LP wäre, wenn sie nach diesem Monolithen von Song zu Ende wäre, ist das für Motorpsycho gerade mal die halbe Miete. So geht es dann in Teil zwei dann auch konsequent im selben Tempo der anfämglichen Abwärtsbewegung Stück für Stück wieder aufwärts, wobei die Norweger mit gleichsam düsteren wie sakral-kaskadischen Tracks der Sorte Plan #1 und Junior nochmal eine ganz andere Facette zeigen. Schluss ist dann gut eine Stunde nach dem ersten Ton mit einer kompositorisch fast identischen Reprise des Openers, die diesmal allerdings als lärmige Hardrock-Nummer performt wird und dadurch wie vom Erlebnis des Albums selbst verändert wirkt. Und jedes Mal, wenn ich nach einem Durchlauf mit Demon Box selbst an dieser Stelle ankomme, bin ich das ehrlich gesangt auch ein bisschen. Wir reden hier von einer dieser Platten, die als musikalische Erfahrung insofern mit dem eines guten Films oder Buchs vergleichbar sind, als dass sie mich durch eine ganz eigene Dramaturgie mitnimmt, die unweigerlich auf meine Emotionen einwirkt. Ein bisschen wie Alice im Wunderland, nur grobkörniger und definitiv ohne die familienfreundliche Disney-Brille. Wobei ich nicht der einzige zu sein scheine, mit dem diese LP etwas gemacht hat, denn mit Release des fertigen Monstrums waren Motorpsycho 1993 plötzlich Hans Dampf in allen Gassen. Es mag der generellen Freundlichkeit gegenüber weirder Rockmusik am Anfang der Neunziger zu verdanken sein, dass sowas überhaupt möglich war, doch binnen weniger Monate wurde die Band in ihrer Heimat Norwegen wohlwollend vom Mainstream angenommen und erarbeitete sich wenig später auch in ganz Europa eine respektable Gefolgschaft. Vor allem sorgte Demon Box aber intern für die Stabilität, die dem Trio bis dahin gefehlt hatte und schuf mit dem Kreis aus Helge Sten, Matt Burt und Lars Lien eine künstlerische Taskforce, die teilweise bis heute gemeinsam das Unternehmen Motorpsycho voranbringt und erweitert. Das nächste Album Timothy's Monster erschien nur ein Jahr später beim eigenen Label Stickman Records und brach für die Band die letzten Dämme außerhalb von Norwegen mit einer verfeinerten und noch vielschichtigeren Version des Sounds auf Demon Box. Und obwohl man deshalb sagen kann, dass Timothy's Monster eigentlich das Opus Magnum der Norweger ist und seinen Vorgänger in Sachen Kreativität und Tragweite zumindest ein wenig in den Schatten stellt, ist mir das ruppige und bärbeißige Scheusal Demon Box doch immer noch die liebste und darüber hinaus auch objektiv die Initialzündung eines Spirits, der laufen musste, damit alle seine Nachfolger rennen konnten. Und nie wieder haben es Motorpsycho danach geschafft, so eine bewusstseinsverändende und konzeptuelle Platte zu machen wie diese hier. Nicht mal in den Momenten, in denen es tatsächlich Absicht war.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢🟢 11/11


Persönliche Höhepunkte
Waiting for the One | Nothing to Say | Feedtime | Sunchild | Tuesday Morning | All is Loneliness | Come On In | Step Inside Again | Demon Box | Babylon | Junior | Plan #1 | Sheer Profoundity | the One Who Went Away

Nicht mein Fall
-


Hat was von
the Smashing Pumpkins
Siamese Dream

Pavement
Slanted & Enchanted


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