PERSÖNLICHKEITEN DES JAHRES:
INJURY RESERVE / BY STORM
Es hat immer etwas voyeuristisches, Künstler*innen bei der Trauerarbeit zuzuhören und gerade wenn die Wunde so frisch ist wie bei dieser Band nach dem Tod von Steppa J. Groggs 2021, will man den betroffenen manchmal zurufen, sich lieber noch ein bisschen Zeit zu nehmen und die Sache in Ruhe anzugehen. Sobald man aber hinsieht und die verbleibenden zwei Musiker dabei beobachtet, wie sie hier ihre ersten Schritte als neue Band gehen und ihre Fans am Übergang teilhaben lassen, muss man feststellen, wie emotional stark und wie wertvoll es ist, so nah an den stattfindenden Coping-Prozess herangelassen zu werden. Stand 2024 werden Injury Reserve damit begraben sein, aus deren Asche steigt aber etwas neues empor, von dem ich gespannt bin, mehr zu erfahren. Aber auch hier möchte ich lieber einmal zu viel als einmal zu wenig gesagt haben: Lasst euch Zeit, findet euren Weg, lasst die Dinge kommen. Niemand nimmt es euch übel, wenn es nächstes Jahr kein Album gibt.
ARSCHLÖCHER DES JAHRES:
RAMMSTEIN
Ich möchte die ganze Nummer an diesem Punkt eigentlich nicht mehr kommentieren und allein dass darüber immer noch eine Debatte existiert, in der Pro-Rammstein-Stimmen laut werden, zeigt, wie eklig alles in Verbindung mit dem Missbrauchsskandal ist, weshalb ich von ihr kein Teil sein will. Eine Sache nur: Sexuelle Gewalt im Musikbusiness ist seit Jahren ein Thema und deutet eher auf ein sozial-kulturelles denn auf ein Einzelfallproblem hin und es liegt mir fern, Fälle dieser Art gegeneinander aufzuwägen. Die Systematik, wie das bei dieser Band stattfand, ist aber eine ganz andere Hausnummer als vieles, was in den letzten Jahren ans Licht kam und deshalb besonders schockierend. ARBEITSTIER DES JAHRES:
TRIPPIE REDD
Zwar muss ich gestehen, dass ich keines der drei Alben sonderlich mochte, die Trippie Redd dieses Jahr veröffentlicht hat, das Fleißbienchen kriegt er am Ende der Saison aber trotzdem. Nicht nur deshalb, weil er eben sehr viel Musik machte, sondern auch deshalb, weil jedes dieser Alben stilistisch ein bisschen anders unterwegs war: Auf Mansion Musik führte er im Frühjahr seine Rage-Ära weiter, A Love Letter to You 5 ging kurz zurück in den Emotrap der letzten Jahre und sein ausgedehntes EP-Projekt-Dingsbums Saint Michael machte vor ein paar Wochen nochmal von allem ein bisschen. Stilistisch ist der Weg von Trippie Redd damit so offen wie lange nicht mehr, allerdings auch weniger verheißungsvoll als vielleicht vor zwei oder drei Jahren. BAND, BEI DER ICH DIESES JAHR LATE TO THE PARTY WAR:
THE GO! TEAM
Es wäre ja das eine gewesen, einfach nur den ersten Teil der Get Up Sequences-Reihe verpasst zu haben, der zwei Jahre zuvor erschien und damit mitten in die Pandemie fiel, in der eh kein Mensch durchblickte. Dass ich aber bisher keines der Alben von the Go! Team gehört hatte, die während meiner aktiven Phase hier durchweg aktiv waren und bei meinem Faible für Bands wie die Avalanches oder Little Dragon genau in mein Beuteschema gepasst hätten, ist ein Verlust, den ich erstmal wieder gut machen muss. Erster Schritt wird dabei eine (Achtung, Spoiler!) hohe Platzierung ihres aktuellen Albums in meiner Albenliste für diese Saison sein. Der nächste, mir den Katalog der Briten nach und nach postwendend anzueignen. Hilft ja alles nichts.DÄMLICHSTER HYPE-ACT DES JAHRES:
ICE SPICE
Ich will an dieser Stelle in keinster Weise Ice Spice als Person angreifen und an sich finde ich es ja cool, dass mehr Künstler*innen wie sie gerade so durchstarten. Bei ihr selbst habe ich aber rein musikalisch so überhaupt keinen Anlass gefunden, warum ausgerechnet sie dieses Jahr so besonders interessant war. Als Rapperin ist sie dürftig, ihre Inhalte sind nicht besonders originell, als künstlerischer Charakter macht sie nicht viel her und ich fand ohne Ausnahme bisher jeden Song von ihr furchtbar. Was fatal ist, denn schon dieses Jahr hat sie mit ihren Features eine ganze Menge an sich formidabler Songs ruiniert und ich werde mich darauf einstellen müssen, dass es nächstes Jahr noch mehr werden. Ganz zu schweigen davon, dass wir vielleicht ein komplettes Album von ihr ertragen müssen.POSITIVE ÜBERRASCHUNG DES JAHRES:
CAPTAIN PLANET
Come On, Cat
Ich war in der Vergangenheit nie wirklich ein Fan von Captain Planet, ich habe es höchstens mal versucht. Die Musik der Hamburger war mir immer etwas zu überdramatisiert, hektisch und Jan-Arne von Twistern ein mäßig guter Sänger und Texter. Mit Album Nummer fünf im zwanzigsten Jahr ihrer Karriere ist das aber plötzlich anders: Der Sound ist klarer und geordneter, die Inhalte an vielen Stellen deutlich besser nachfühlbar und selbst der Gesang, der bei sowas gerne Mal das Zünglein an der Waage sein kann, wirkt hier gesetzter und ruhiger. Bei alledem ist Come On, Cat aber alles andere als ein langweiliges Album und kanalisiert den Emorock-Spirit, den Captain Planet ja schon immer irgendwie mit sich führen, zum ersten Mal wirklich effektiv. Hoffentlich alles Angewohnheiten, die die Band in Zukunft beibehält.ENTTÄUSCHUNG DES JAHRES:
EROBIQUE
No. 2
Das wirklich tragische an No. 2 war eigentlich der Abstand zur ersten Platte. 25 Jahre war die letzte "richtige" davon her und die war auch noch das Debüt des Hamburgers. Als Nachfolger dessen nun so ein halbfertiges, skizzenhaftes und monotones Album zu bekommen, das nicht mal für ein paar Einzeltrack-Highlights gut war, ist da wirklich bitter. Zumal es eben nicht sicher ist, ob und wann es überhaupt nochmal ein nächstes Album von Erobique gibt. Der vielleicht einzige Vorteil daran: Es fällt definitiv nicht schwer, diese Schmach zu vergessen.COMEBACK DES JAHRES:
SIGUR RÓS
Die Ankündigung von Átta im Frühjahr war für mich tatsächlich einer dieser Dass-ich-das-noch-erleben-darf-Momente, den ich erst glaubte, als ich das Album tatsächlich hörte. Noch vor wenigen Jahren hatte ich hier rausposaunt, dass es vermutlich das beste wäre, wenn Sigur Rós sich einfach auflösen würden, weil alle Mühe, das Pferd wieder aufzuzäumen, vergebens schienen. Jetzt sind sie nicht nur wieder da und haben sogar Kjartan Sveinsson zurück, die neue Platte ist auch eine ihrer besten geworden. Was zeigt, dass vielleicht die Comebacks am schönsten sind, mit denen man nicht mehr gerechnet hat.PRODUZENT DES JAHRES:
THE ALCHEMIST
Eine besonders große Überraschung dürfte diese Nennung nicht sein und gerechtfertigt wäre sie an und für sich auch schon letzte oder vorletzte Saison gewesen. An dieser Stelle aber nochmal das offensichtliche: The Alchemist macht seit Jahren Lieblingssongs und Lieblingsplatten von mir, wobei mit Faith is A Rock und Voir Dire gleich zwei seiner drei offiziellen Kollaborationen in 2023 zu meinen Jahresfavoriten gehören. Nicht nur für mich ist er damit mittlerweile einer der ganz großen Namen im Hiphop und das absolut zu Recht. Hoffentlich auch weiterhin.PLATTE, DIE BESSER IST ALS IHR RUF:
ROGER WATERS
The Dark Side of the Moon Redux
Roger Waters' Dark Side of the Moon-Remake war zugegebenermaßen keine Platte, für die ich dieses Jahr auf die Barrikaden gegangen wäre und die definitiv ihre Schwächen hat. Was ich aber auch nicht verstand, war der umfassende Hass, der diesem Projekt von Anfang an entgegen schlug und sich in teils scheußlichen Verrissen äußerte. Vielen dieser "besorgten Fans" muss ich dabei unterstellen, das Album wahrscheinlich nicht mal richtig gehört zu haben, so sehr wie sie sich daran abarbeiten, dass es überhaupt existiert. Ja, es ist etwas anderes als das Original von 1973 und ja, es nimmt teils radikale Neuerungen vor. Dass diese aber mitunter begründet und recht oft auch nicht unspannend sind, will wieder niemand hören. PLATTE, DIE SCHLECHTER IST ALS IHR RUF:
SPRAIN
The Lamb As Effigy
Ich bin ja im Regelfall viel für avantgardistischen Bums und jedes noch so experimentelle Konzept zu haben und finde vieles gut, wo manch anderer pretenziöse Kackscheiße wittert. Bei Sprain war aber auch ich dieses Jahr raus. 97 Minuten schabender Post-Post-Postpunk mit existenzialistischem Gejammer von alten weißen Männern? Da sind mir ja sogar Swans lieber. Und an sich hätte ich so eine Platte wahrscheinlich auch gar nicht erst gehört, wäre sie nicht zwischenzeitlich auf Platz Eins der RYM-Lieblingsalben dieser Saison geklettert. Ist zwar auch klar, dass sowas dort immer gut funktioniert, froh war ich aber trotzdem, als kurz danach Scaring the Hoes wieder seinen rechtmäßigen Platz einnahm.DEBÜTALBUM DES JAHRES:
YALLA MIKU
Yalla Miku
ALBUMTITEL DES JAHRES:
Pillepalle Gemüsehalle
von ANALSTAHL
WTF-ALBUM DES JAHRES:
LIL UZI VERT
Pink Tape
BESTES ARCHIV-RELEASE:
FLUME
Things Don't Always Go the Way You Plan / Arrived Anxious, Left Bored
BESTES REMIX-ALBUM:
THE ORB & DAVID GILMOUR
Metallic Spheres in Colour
BESTES LIVEALBUM / BESTES TRIBUTE-ALBUM:
CAT POWER
Cat Power Sings Dylan: The 1966 Royal Albert Hall Concert
BESTER SOUNDTRACK:
WILLIAM RYAN FRITCH
Polarity
BESTES KONZEPTALBUM:
MATANA ROBERTS
Coin Coin Chapter 5: In the Garden
BESTE EP:
BILDERBUCH
Softpower
GROWER DES JAHRES:
ALL HANDS_MAKE LIGHT
Darling the Dawn
TEXTPLATTE DES JAHRES:
AESOP ROCK
Integrated Tech Solutions
ALBUM MIT DEM BESTEN SOUND:
SIGUR RÓS
Átta
POPSONG DES JAHRES:
KYLIE MINOGUE
Padam Padam
BEAT DES JAHRES:
ARMAND HAMMER
The Key is Under the Mat
Produziert von Jpegmafia
SONGZEILE DES JAHRES:
"Diese Stadt wurde einst von Männern gebaut und genauso sieht sie auch aus" - Shatten, Moderne Arbeit
GITARRENSOLO DES JAHRES:
KIM PETRAS
Revelation
BESTER POSSE CUT:
CONWAY THE MACHINE feat. 7XVETHEGENIUS, GOOSYBYTHEWAY, SK DA KING, LUCKY SEVEN & KNDRX
Hov Numbers