Montag, 4. November 2019

Alle sterben

[ wortreich | schmerzvoll | tragisch ]

Ich habe es in den letzten Jahren auf meinem alten Format zur Gewohnheit gemacht, sehr viel über die Musik von Mark Kozelek zu schreiben, wobei es klar geworden sein sollte, dass ich im Allgemeinen ein ziemlich großer Fan seines Outputs bin. Seit 2017 ist jede Saison mindestens eines seiner Alben unter meinen persönlichen Favoriten gewesen und - Spoiler Alert - auch 2019 wird das wieder der Fall sein. Die künstlerische Phase, die der Songwriter aus Ohio seit vier oder fünf Jahren durchläuft, ist einfach unglaublich faszinierend und zeigt neue Impulse für eine Art Singer-Songwriter-Ästhetik auf, die es so vorher nicht wirklich gab. Sein Ansatz, das Storytelling seiner Tracks in den absoluten Mittelpunkt zu stellen, geht inzwischen so weit, dass man fast kaum noch von reinem Musikmachen sprechen kann. Stand 2019 hat sich Kozelek eine äußerst bedingungslose Stream-of-Consciousness-Erzählweise angewöhnt, bei der er mehr oder weniger nur noch zufällige Ereignisse des letzten halben Jahres über eine relativ monotone Bandbegleitung deklamiert. Auf dem Papier klingt das natürlich furchtbar langweilig, doch weil es meistens doch irgendwas zu sagen gibt und nicht zuletzt weil Kozelek jemand ist, dem man wahnsinnig gerne zuhört, finde zumindest ich seinen Stil einigermaßen visionär. Und seit einiger Zeit zeigt sich auch mehr und mehr, dass er damit nicht allein ist. Die letzten beiden Platten von Mount Eerie sind entscheidend von ihm beeinflusst und auch bei Leuten wie Luke Temple oder Markus Wiebusch erkennt man gewisse Versatzstücke seiner Erzählart. So sehr ich aber auch finde, dass Alben wie This is My Dinner, I Also Want to Die in New Orleans oder 30 Seconds to the Decline of Planet Earth gerade dabei sind, ein Genre zu revolutionieren, so sehr stehen sie auch alle im Schatten der LP von Sun Kil Moon, auf der von dieser Struktur gerade erst die Anfänge zu erkennen waren. Benji war 2014 bereits der sechste Longplayer von Kozeleks neuer Band, nachdem die Red House Painters Anfang der Zwotausender die Segel strichen. Schon da war er bekannt für sein intimes, sehr ehrliches und menschelndes Folk-Songwriting, vom Zeug seiner ersten Gruppe unterschied sich das aber nur unwesentlich. Zumindest bis ihn vor acht Jahren dann plötzlich der Schalk packte. Wie aus dem nichts fing er um 2012 rum an, Platten am Fließband zu produzieren, wobei er meist solo, hin und wieder aber auch mit eher ungewöhnlichen Leuten wie Jimmy Lavalle von the Album Leaf oder Desertshore arbeitete. Es schien, als wolle er plötzlich etwas komplett neues entdecken, um seine Songs besser zu machen. Und zwei Jahre später hatte er es dann gefunden.
Es ist nicht weit hergeholt, zu behaupten, dass Benji ein Konzeptalbum ist. Es gibt vielleicht kein klar formuliertes zentrales Thema, um das sich alle Songs hier drehen, doch kann man eine gewisse thematische Basis mit wenig Mühe ausmachen. Gleich in den ersten drei Tracks der LP singt Kozelek von drei Todesfällen in seiner Familie, zwei die schon passiert sind und mit ein Sicherheit noch kommender. Es geht dabei um Trauerfeiern, um geteilte Erlebnisse, um die Famile des Songwriters und immer wieder auch um seinen Heimatstaat Ohio. Schnell macht sich dabei ein Narrativ breit, das für den Rest des Albums - mal stärker, mal weniger stark - haften bleibt: Das Sterben Anderer als unmittelbare Erfahrung und das, was danach von Menschen bleibt. Generell macht das Benji zu einer äußerst bedrückenden Erfahrung, da Kozelek in seinen Ausführungen extrem detailliert und ungefiltert ist, es gibt aber auch regelmäßig jene Stellen, in denen er den geschilderten Ereignissen Lektionen und Erinnerungen entnimmt, die ihn stärken. In I Love My Dad singt er über seinen problematischen Vater, in dessen Persönlichkeit er sich wiederfindet, Jim Wise handelt von einem Mann, der im hohen Alter kurz vor einer Gefängnisstrafe steht und Prayer for Newtown erzählt zum ersten Mal die Geschichte einer Schießerei, derer von Kozelek noch viele folgen werden. Hin und wieder schwenkt der Songwriter dabei in seine eigene Biografie ab, referiert in Dogs über die sexuellen Erfahrungen seiner Teenagerzeit oder stellt in Richard Ramirez Died Today of Natural Causes sein Leben dem des titelgebenden Serienmörders gegenüber. Was mich dabei so unglaublich packt ist die Lebendigkeit dieser of tragischen Stories. Die handelnden Personen sind oft äußerst gewöhnliche Leute, denen schwere Schicksale widerfahren und Kozelek gelingt es hervorragend, das Gefühl einzufangen, wenn das Leben weitergeht, aber man selbst nicht mitkommt. Der letzte Song der Platte, Ben's My Friend war für mich anfangs ein Ausreißer, da der Text hier nur von einem ganz gewöhnlichen Tagesablauf Kozeleks handelt (ähnlich vielen Stücken, die er danach schreiben würde), doch tatsächlich schließt er Benji auf eine großartige Weise ab. Er zeigt, dass nach all den schmerzvollen Geschehnissen, Dramen und Todesfällen der Alltag trotzdem wiederkommt und das sehr unbarmherzig sein kann. Es ist kein hoffnungsvolles Gefühl, mit dem die Platte eine*n entlässt, doch es ist ohnehin kein Album, bei dem ein Happy End angebracht wäre. Benji ist ein Album das zeigt, wie man an Trauer und Enttäuschung wachsen kann und dass unfaire Dinge passieren, mit denen man klarkommen muss. Insofern ist es sehr besonders, weil es extrem ehrlich ist. Und diese Art von Moral hat Benji seinen Nachfolgern voraus, weshalb es das ist, was bei mir und vielen anderen am meisten hängen geblieben ist.

Klingt ein bisschen wie:
Mount Eerie
A Crow Looked at Me

Luke Temple
A Hand Through the Cellar Door

Persönliche Highlights: Carissa | I Can't Live Without My Mother's Love | Truck Driver | Dogs | Pray for Newtown | Jim Wise | I Love My Dad | Richard Ramirez Died Today of Natural Causes | Micheline

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